Kapitel 8

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Oh wow! Das war verdammt knapp! Fast wäre ich in ein Taxi gelaufen. Paddy schafft es gerade noch, mich am Arm zurückzuziehen. Der Schwung ist so groß, dass wir beide dabei rückwärts auf den Gehweg fallen.

Wie so oft sind meine Gedanken wild in alle Richtungen gewandert. Von Daniel über den Flug, diesen verrückten Tag, mein ganzes Leben, das einer Achterbahnfahrt auf Rollschuhen bei Glatteis gleicht, bis hin zu Paddy, der neben mir läuft. Er ist so neu, so anders und macht etwas mit mir, das ich nicht verstehe. Aus irgendeinem Grund habe ich das Gefühl, ihm vertrauen zu können. Seine raue Stimme. Der aufmerksame Blick. Diese Aura der Nachdenklichkeit, die ihn umgibt. Er sieht mich an als wäre ich das einzige, das in für ihn zählt. Dass mich jemand ernst nimmt, mir überhaupt zuhört, ist ein ziemlich ungewöhnliches Gefühl für mich und es fühlt sich wunderbar an.

Er hat sich in meine Gedanken geschlichen. Einfach so. Für einen Moment war ich ganz bei seinen dunklen Haaren, die ihm leicht chaotisch in die Stirn fallen. Bei seinem Mund. Und bei diesen Augen, die mich an Dunkelheit erinnern.

Dabei habe ich überhaupt nicht gemerkt, dass ich die Fahrbahn betreten habe. Bis mich die Realität in Form von quietschenden Bremsen und Paddys Hand wieder eingeholt hat.

Ich kenne das von mir schon. Ungeschickt ist mein zweiter Vorname. Immer mit dem Kopf in den Wolken. Daniel hat sich ständig darüber lustig gemacht. Überhaupt hat er sich ziemlich häufig über mich lustig gemacht, gern auch vor anderen. Aber darüber möchte ich im Moment nicht nachdenken.

Der Asphalt ist rau unter meinen Handflächen und ich atme keuchend ein und aus, noch immer ganz zittrig vor Schreck. Paddy schaut mich fragend von der Seite an. „Alles in Ordnung? Du hast mir einen riesigen Schrecken eingejagt!" Ich nicke benommen, versuche durchzuatmen. „Ja, danke. Es geht schon wieder. Ich war... ich bin. Ach, ich weiß auch nicht. In Gedanken." „Das habe ich gemerkt!", ein Grinsen legt sich über sein Gesicht. „Aber auch wenn du wütend auf deinen Ex bist: Du musst dich doch nicht gleich mit einem Taxi anlegen! Das ist ein verdammt großer Gegner. Versuch es doch erstmal eine Nummer kleiner. I don't know. Mit einem Kleinwagen oder so?" Gegen meinen Willen muss ich jetzt auch grinsen. „Ich werde darüber nachdenken! Und außerdem denke ich beim nächsten Mal an den verdammten Linksverkehr!" „Dann lass uns besser mal aufstehen. Etwas ungemütlich hier unten", sagt er und reicht mir seine Hand, um mich nach oben zu ziehen.

Wir gehen nicht weiter, sondern bleiben auf dem Gehweg stehen. Er ist mir nah, sehr nah, und ich zögere, unsicher, was ich jetzt sagen, was ich tun soll. Mich bedanken? Zu förmlich. Ihm um den Hals fallen? Um Himmel willen! Er hält meine Hand noch immer in seiner und ich schaue auf unsere verschränkten Finger und frage mich, was hier gerade passiert. Es ist nur ein Moment, nur ein Hauch von einer Berührung. Eine winzige Ahnung von etwas, das sein könnte. Und doch: Das Gefühl ist da. Dabei kennen wir uns erst seit wenigen Stunden. Ich schaue zu ihm hoch und wieder trifft mich der Blick aus seinen oh so blauen Augen. Wir sehen einander stumm an, während sein Daumen sanft meine Handfläche streichelt.

Ein intensiver Moment. Ein Moment mit Bedeutung.

Bis Paddy plötzlich einen Schluckauf bekommt.

Oh mein Gott! Ich kann nicht mehr! Es klingt so komisch! Es passiert mitten in diesem besonderen Augenblick. Hicks. Ich breche in schallendes Gelächter aus. Hicks. Er schaut mich so belustigt-verzweifelt an, dass ich noch heftiger lachen muss. Und im gleichen Moment fällt mir auf, dass ich zum ersten Mal seit einer gefühlten Ewigkeit wieder lache, wirklich lache, so dass es in meinem Herzen ankommt. Paddy stimmt in mein Lachen ein und es dauert eine ganze Weile, bis wir uns wieder beruhigt haben. Anschließend sind wir so außer Atem, dass auch der Schluckauf wieder verschwunden ist. Paddy wischt sich ein paar Tränen aus den Augenwinkeln. „Unbelievable! Was das Leben manchmal mit einem macht... Such a special moment! Und dann das! Möchtest du jetzt überhaupt noch mit mir in den Park?"

„Na klar", nicke ich. „Das kann ich mir auf keinen Fall entgehen lassen! Und außerdem... Danke!" „Wofür denn?" „Dafür, dass du mich zum Lachen gebracht hast! Das war so schön", murmele ich und gebe ihm einen flüchtigen Kuss auf die Wange. Er sieht mich verblüfft an. Dann legt sich ein sanftes Lächeln über sein Gesicht. Er berührt seine Wange mit den Fingerspitzen. „Oh. Dafür mache ich mich doch gerne lächerlich! Ich sollte dich noch häufiger zum Lachen bringen. I might really get used to that. Such a sweet sound..."

Wann hat jemand zuletzt etwas so Schönes zu mir gesagt? Ich kann mich nicht erinnern. Seine Worte berühren etwas in mir, lassen einzelne Steine aus der Mauer brechen, die ich um mich herum errichtet habe, nachdem Daniel mich so verletzt hat. Wenn ich doch nur wieder lernen könnte, Freundlichkeit anzunehmen und Glücksgefühle zuzulassen. Diesen Kampf aufgeben könnte, den ich täglich gegen mich selbst führe.

Plötzlich bin ich unglaublich verlegen. Wir laufen nebeneinander her in den Park und die Dunkelheit, die uns umfängt, verbirgt gnädig meine geröteten Wangen und mein verklärtes Lächeln. Jetzt bloß nicht gegen einen Baum laufen! Hier ist es wirklich schön, soweit ich das im Dunkeln erkennen kann. Paddy erzählt mir ein wenig über die Geschichte des Parks, der nach der Weltausstellung von 1907 hier entstanden ist. Wir spazieren am Fluss Dodder entlang und ich höre Paddy zu, der davon spricht, wie er als Kind mit seinen Geschwistern immer hier gespielt hat, wenn sie in Irland waren. Schließlich zieht er mich zu einem kleinen Pavillon in der Mitte des Geländes und wir setzen uns auf eine Bank.

„Hier haben wir früher manchmal Musik gemacht, meine Geschwister und ich." „Hast du viele Geschwister?", frage ich. „Ja, das kann man so sagen... Ich habe vier Brüder, drei Schwestern und dazu noch vier Halbgeschwister. Leider habe ich zu manchen nicht mehr viel Kontakt. Wir sind alle sehr unterschiedlich. Und auch sehr eigensinnig. Als wir jünger waren hat unser Vater uns alle zusammengehalten. Aber vor ein paar Jahren ist er gestorben und jetzt ist es... somehow... Man könnte sagen: Wir Kellys sind alle ein bisschen verrückt."

Für einen kleinen Moment ist er mit den Gedanken offensichtlich weit weg, ein leiser Schatten legt sich über sein Gesicht. Ich möchte so gern mehr über ihn erfahren, mag ihn aber nicht drängen. Wie selbstverständlich nimmt er wieder meine Hand und verschränkt seine Finger mit meinen. Wir schweigen einen Moment, hören der Stille und dem Wind in den Bäumen zu. Den leisen Geräuschen der Nacht. Worte sind nicht notwendig in unserem stummen Verständnis füreinander und dem zarten Gefühl zwischen uns, das mit jeder Berührung wächst.

Schließlich geht dicht am Pavillon ein Ehepaar mit seinem Hund vorbei. Die kräftigen irischen Stimmen durchbrechen die Stille und lassen uns aufblicken. Langsam sickert die Realität wieder in mein Bewusstsein. Und ein Gedanke blitzt in meinem Kopf auf. Zuerst nur flüchtig. Eine Ahnung, die ich nicht richtig greifen kann. Es geht um etwas, das er gesagt hat. Doch dann erinnere ich mich! Und reiße erschrocken die Augen auf. Die Fans am Flughafen! Eine so große Familie! Und der Name. Kelly. Natürlich!

Das ist doch unglaublich. Mal wieder bekomme ich den Preis für den langsamsten Verständnisprozess in der Geschichte der Menschheit! Ich sitze tatsächlich neben einem Mann, der in den 90er Jahren ein gefeierter Superstar war. Soweit ich weiß, macht er auch heute noch Musik. Und ich merke nichts!

Was sage ich ihm jetzt? Ändert das etwas zwischen uns?

Mitten ins Herz (Michael Patrick Kelly FF)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt