Über mir Stille

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1

Es herrscht Stille.
Und doch ist es für mich laut. Der Nebel wabert nur wenige Zentimeter über der Wasseroberfläche des Sees der sich vor mir erstreckt. Die Berge und die Tannen des Waldes auf der anderen Seite sind schneebedeckt. Sie alle scheinen unter der Last der schweren Schneedecke zu ächzen. Sie kämpfen. Sie kämpfen, um nicht eines Tages der Last nachzugeben und weg zu knicken. Sie kämpfen so wie ich es einst tat.
In meinem Köpf höre ich Stimmen. Ihre Worte ergeben keinen Sinn mehr, zu schnell reden sie, dass ihre Stimmen zu einem einzigen Wirbel aus zusammenhanglosen Wörtern verschmelzen. Ja, ich glaube sogar eine Melodie in all diesem Durcheinander wahr zu nehmen. Es ist ein Klavierstück. Ein sehr trauriges. Der Pianist muss sehr verzweifelt und von Traurigkeit gefangen sein. So wie ich es bin. Wie ich es immer war und immer sein werde. Doch ich werde etwas ändern. Heute. Jetzt.
Ich versuche mich wieder zurück in das hier und jetzt zu kämpfen, versuche meinen wilden Gedanken zu entkommen.

Nun nehme ich das Gewicht des Steines, den ich wenige Minuten zuvor mit einem Seil an mein Bein gebunden hatte war. Er ist schwer. Und groß. Er würde zweifellos seinen Zweck erfüllen.
Ich spüre den Holzsteg unter meinen nackten Füßen, die Kälte kriecht meinen Körper von unten her herauf. Es stört mich nicht.
Und dann beginnt es zu schneien.

2

Feine weiße Flocken schweben um mich herum, fallen lautlos zu Boden und tauchen die Welt in ein alles verschlingendes weiß.
Der Schnee verwandelt sich in einen eisigen Regen. Er fällt erst langsam, dann immer stärker. Ich lege den Kopf in den Nacken und schließe die Augen. Ich verspüre tiefe Ruhe die aus meinem Inneren zu kommen scheint. Diese Momente sind die, für die es sich zu leben gelohnt hat. Nur leider sind mir zu viele dieser Momente verwehrt worden.
Ich beuge mich nach vorn und hebe den schweren Stein auf. Er würde seinen Zweck zweifellos erfüllen. Dann trete ich den letzten Schritt auf meinem beschwerlichen Weg nach vorne, überwinde die letzten Zentimeter die mich von meinem Glück trennen und falle.
Ich tauche in das tiefe, kalte Wasser ein. Das Gewicht des Steins zieht mich erbarmungslos schnell nach unten. Die Luft weicht aus meinen Lungen, der Druck auf den Ohren steigt, Bilder tanzen vor meinen Augen...
Und nun will ich dir meine Geschichte erzählen, was ich gesehen und wie ich gelebt habe.

3

Mein Name ist Massimo, ich bin 25 Jahre alt und lebe in einer Großstadt. Bevor ihr fragt: nein, meine Eltern habe ich nie kennengelernt. Deshalb weiß ich nicht viel über meine Kindheit. Ich wurde eines Tages von einem jungen Paar gefunden. Bei mir fand man nichts. Nichts, das erklären würde woher ich komme. Ich kann nicht einmal sicher sein, wie ich heiße. Wisst ihr wie sich das anfühlt? Heimatlos zu sein inmitten von Orten die dein zu Hause sein könnten? Ich sage euch wie es sich anfühlt: verdammt leer und einsam.
Man traute mir nicht. Man traute keinem verwahrlosten Findelkind. Deshalb schickte man mich in ein Heim. Dort hatte ich es leider auch nie leicht denn es ist immer schwer wenn man „der Neue" ist. Ich war anders als die Anderen. Ich war der Junge, der immer schweigend und allein am Tisch saß.
Von da an habe ich die Einsamkeit zu meinem besten Freund und meinem stärksten Verbündeten im Kampf gegen die Welt und am Ende auch gegen mich selbst gemacht.
Oft habe ich andere Kinder angesprochen, doch sie haben mich nur voller Verachtung angesehen und sind davon gegangen. Schließlich habe ich es aufgegeben.
Damals habe ich es nicht verstanden. Nicht verstanden, was an mir so anders war. Ich habe stets den Fehler bei mir gesucht. Was war nur falsch mit mir?
Heute weiß ich es.
Ich bin krank.
Zuerst hat sich die Krankheit nur äußerlich gezeigt, weshalb den anderen Kindern des Heims stetig gesagt wurde mich nicht darauf anzusprechen. Also hielten sie sich lieber von mir fern. Sie wussten gar nicht was sie mir damit antaten, wie sie den lodernden Schmerz in meinem Inneren immer weiter anfachten.

Über mir StilleWhere stories live. Discover now