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"Mama! Wo bist du?", rief sie wimmernd. "Mum, antworte mir doch..."
"Hier, mein Schatz, ich bin hier", flüsterte Emira ihrer kleinen Tochter zu und streckte die Hand nach ihr aus. Das kleine Mädchen mit den goldbraunen Haaren rannte auf ihren kurzen Beinen durch den Sand und ließ sich neben die dort liegende Frau fallen.
Auch Emira wimmerte und ließ ihren Augen eine Träne entkommen. Jedoch nicht vor Glück, wie sie es vor fünf Stunden getan hatte, als sie den Brief von Quentin bekommen hatte, in dem stand, dass er bald wieder zuhause sei. Er war so lange weg gewesen und nun, da er endlich zu ihr zurückgefunden hatte, verließ sie ihn. Welche Ironie hat sich das Schicksal da nur ausgedacht.Nein, nicht vor Glück, vor Schmerz. Sie hatte keine Kraft mehr. Der Kampf hatte sie zu sehr geschwächt. Körperlich war sie kurz davor, zu kollabieren, aber ihre Kopf war präsenter als je zuvor. Während ihr Körper immer mehr Kraft verlor, stärkte sich ihr Geist und sie fühlte sich, als könne sie schweben.
Viel zu wenig hatte sie in ihrem Leben gehabt und doch hatte sie sich nie beklagt, weil es stets von Glück und Liebe erfüllt gewesen war. Nur einen Mann, der sie liebte, eine einzigartige Gabe, die sie oft verflucht hatte, und eine wundervolle, kluge und unglaublich besondere Tochter, die sie nun zurücklassen musste. Ihre Zeit war zu Ende und sie war viel zu kurz gewesen. Hätte sie doch bloß nicht vergessen, dass es eine ungeheure Strömung gab, dort draußen im Meer und andere Gefahren, die ihr in den Weg traten. Hätte der König nur den Krieg verweigert, wäre sie nur nicht so töricht gewesen, zu glauben, sie könnte etwas ändern. Sie hatte es ihrer Tochter immer eingeschärft, sich nicht zu überschätzen - ob körperlich oder geistig - und war schlussendlich selbst darauf reingefallen. Emira würde ihre Tochter alleine lassen, die sie über alles liebte, aber sie wusste, dass keine Zeit mehr blieb. Der Schutz ihres Mädchens war allerhöchste Priorität, wie es schon immer gewesen war. Von der kalten Brise fröstelnd, die über den Strand fegte und ihre den Sand in die müden Augen trieb, erhob sie zitternd ihre Stimme und sang die uralten Worte:
"Tief unten am Meeresgrund
dringt aus ihrem königlichen Mund
eine Melodie, so hell und klar,
wie es keine andere je war."Emira war schwach, doch trotzdem zwang sie sich, weiterzusingen und das Lied zu beenden. Ihre Stimme war schmal, aber die Worte so unzerstörbar, als sie ihrer Tochter tief in die Augen schaute, die ihr so grau wie der Sturm entgegenfunkelten, und ihr einen kleinen Gegenstand in die winzige Hand drückte:
"Alte Legenden, vergraben im Ozean
sie funkeln so schwarz wie ein Obsidian
nun, da wir sie endlich riefen,
erheben sie sich aus den Tiefen-"Emiras Stimme verstummte und das Lied brach ab. Sie brauchte eine Weile bis ihre Stimmbänder und Atemwege wieder beruhigt waren, bevor sie mit ihren Augen fahrig in die ihrer Tochter starrte.
"Melody, sei stark, mein Kind. Ich liebe dich so sehr, so unglaublich sehr." Ein Hustanfall rüttelte die Nixe und sie röchelte nach Luft, hörte nicht, dass ihre Tochter ihr antwortete und ihre Worte erwiderte. Emira spürte, wie ihr Körper die letzten Kraftreserven aufbrauchte und beeilte sich, ihre letzten Worte an ihre Tochter zu richten.
"Du bist einzigartig. Du musst dich nie entscheiden, dafür sorge ich. Höre auf die Melodie in deinem Herzen, versprich mir das. Ich liebe dich, ich liebe dich mehr als den Ozean und noch mehr als mein ganzes Sein, kleine Melody. Vergiss das nie..."
Dann schloss sie die Augen, gab sich der Erschöpfung hin und gewährte ihrer Seele die Ruhe, mit der diese im Meer versinken konnte, um zurück zu ihren Ahnen zu gelangen.Das kleine Mädchen hörte aufmerksam zu, merkte sich jedes einzelne Wort, das die Lippen ihrer Mutter verließ, doch als die Stimme versiegte, fing sie an zu zittern. Die Erkenntnis traf sie mit einem Schlag und unendliche Trauer umgab das kleine Kind. Sie ließ die Kette aus ihren Fingern gleiten, weil die Kraft, diese zu halten, schwand und das Gewicht sie nach unten zu ziehen schien. Ihre Zähne klapperten aufeinander, was nicht nur dem Wind geschuldet war. Die kalte Hand des unumgehbaren Schicksals hatte sich über die zwei Gestalten gelegt und verursachte eine Gänsehaut auf dem zierlichen Körper des Mädchens.
"Mama? Mum! Wach auf!", flüsterte sie und berührte die eiskalte Hand ihrer Mutter. Sie zuckte vor der Kälte zurück und stolperte ein Stück nach hinten. Sie sah sich um, suchte mit den in Tränen schwimmenden Augen nach Hilfe, aber niemand kam. Melody rang nach Atem, als die Tränen ihr die Sicht raubten, als die Erkenntnis ihr einen Dolch in ihr rasendes Herz rammte, als ihr Blick wieder auf ihre tote Mutter fiel. Sie taumelte vorwärts und fiel auf die Knie, schrammte sich die weiche Haut auf und versandete ihr nasses Kleid. Etwas klirrte und die Kette, nun leicht wie eine Feder, fand den Weg zwischen ihre Finger.
"Mum...", flüsterte sie ein letztes Mal und eine Träne bahnte sich den Weg über ihre rosige, aber kalte Wange. Sie hing an ihrem Kinn und fiel, fiel genauso wie die Hoffnung auf Rettung und verschwand in der Erde.
Frierend legte sie sich auf den leblosen Körper und versuchte, keinen Gedanken daran zu verschwenden, dass ihre Mutter fort war, dass ihr sonst so warmer Körper sie nun zum Zittern brachte. Die Nähe ihrer Mutter tat gut, auch wenn sie für immer gegangen war. Nach und nach wurde sie ruhig und fand trotz ihrer wirbelnden Gedanken und Trauer Ruhe bei ihrer Mutter, deren Körper nach und nach von Sand bedeckt wurde wie der Sturm am Himmelzelt seinen Schlund öffnete und feine Tropfen hinabließ.
Sie war allein. Niemand war bei ihr. Nur eine Kette lag versteckt zwischen den Fingerchen, viel zu groß für die kleine, zarte Hand, als wäre sie fehl am Platz.
Die Kette war aus purem Gold, der Anhänger hatte die Form einer Muschel, durch die Zeit geprägt.
Kein Hinweis auf die Herkunft. Nur ein einziges, kleines Wort und doch so bedeutend. Ein nie vergessener Name.
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Weltenwandler - Wechsel der Gezeiten
Fantasía»Sie war allein. Niemand war bei ihr. Nur eine Kette lag versteckt zwischen den Fingerchen, viel zu groß für die kleine, zarte Hand, als wäre sie fehl am Platz und doch, als gehöre das Schmuckstück genau dort hinein. Die Kette war aus purem Gold, d...