Kapitel 1 - Herbst

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Ich bin auf dem Weg zum Friedhof. Mein Fahrrad schiebe ich neben mir her, um den Kaffee zu genießen, während ich durch den angrenzenden Park schlendere.
Es ist ein herrlicher Herbsttag. Die Sonne scheint warm auf mein Gesicht und verleiht den bunten Baumkronen einen goldenen Schimmer.

An diesem Nachmittag sind viele Menschen unterwegs. Familien machen Picknicks auf den Wiesen. Einige ältere Leute spielen gemeinsam Karten an steinernen Tischen, welche sich überall verteilt unter schattenspendenden Bäumen befinden. Wieder andere entspannen sich auf Bänken mit einem Buch oder einer Zeitung.
Es ist schon ein seltsames Bild:
Auf der einen Seite des Parks genießen die Menschen friedvoll ihr Leben. Sie lachen, toben herum oder verlieren sich im Gezwitscher der Vögel. Sie machen Scherze über den gestrigen Fehler des trotteligen Praktikanten, zischen ein paar kühle Biere mit den besten Kumpels an einer Grillstelle oder frönen dem neusten Klatsch und Tratsch der Freundinnen.
Auf der anderen Seite jedoch begegnet man trauernden Gestalten. Menschen, welche den Verlust von geliebten Familienangehörigen oder Freunden zu verarbeiten versuchen. Es sind vielseitige Gesichter, denen man dort begegnet: Verzweifelte Gesichter, traurige Gesichter, wütende Gesichter oder gar stille Gesichter. Doch glückerfüllte Gesichter trifft man an diesem Ort sehr selten.
All das direkt nebeneinander. Es ist seltsam beeindruckend.

Ich bin bereits so weit in den Park hineinspaziert, dass ich das Eingangstor des Friedhofs erkennen kann.
»Ich bekomme das hin. Dieses Mal schaffe ich es ganz bestimmt!«, beruhige ich mich selbst, weil ich plötzlich bemerke, wie nervös ich bin.
Meine Muskeln spannen sich an und ich halte inne. Neben mir befindet sich ein sonniges Plätzchen vor einem riesigen Ahornbaum. Es sieht so einladend aus, dass ich mich dazu entschließe, mich dort erst einmal hinzulegen.

Die Arme hinterm Kopf verschränkt, schaue ich hinauf in den Himmel und beobachte die vorbeiziehnden Wolken. Sie sind ganz dick und schneeweiß und erinnern mich an ein Gefühl aus meiner Kindheit, dass ich immer dann empfand, wenn mir Dad vor dem Zubettgehen eine Geschichte vorgelesen hatte. Es ist ein warmes, angenehmes Gefühl. Ein Gefühl von Sicherheit.
»Na, siehst du mich ?«, flüstere ich, den Blick noch immer starr gen Himmel gerichtet.
»Dann siehst du ja auch, wie feige ich bin. Ich habe es nie weiter als bis hierhin geschafft. Sogar einen Brief hab ich dir geschrieben...«

Ich greife neben mich, wo ich den Kaffeebecher abgestellt hatte, wechsele in den Schneidersitz und nehme einen großen Schluck. Mir ist nach weinen zumute, doch ich habe schon zu oft geweint. Es fühlt sich an, als wäre der imaginäre Träneneimer in mir mittlerweile einfach leer.
Gedankenverloren starre ich auf ein rotgelbes Ahornblatt, welches es sich auf meinem rechten Knie gemütlich gemacht hat.
Plötzlich reißt mich ein mechanisches Klickgeräusch aus meinen Gedanken und holt mich schlagartig in die Realität zurück.

Als ich mich umsehe, bemerke ich einen jungen Mann am Friedhofszaun lehnen. Seine dunklen Locken fallen ihm sanft ins Gesicht und er trägt über einer schwarzen Jeans einen olivfarbenen Pulli, der etwas zu kurz geraten scheint, da der junge Mann sehr groß gewachsen und schlank ist. In seinen Händen hält er eine Kamera mit großem Objektiv, eine Spiegelreflexkamera vermute ich, und seine Augen sehen direkt in meine Richtung.

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