One

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16. Oktober

Tag für Tag saß sie dort, Woche für Woche. Bei Wind und Wetter. Egal, ob an einem Samstag oder mitten in der Woche.

Jeden Tag fiel sie mir auf meinem Weg zur Schule ins Auge. Wenn ich zu meiner Bushaltestelle lief, hatte sie sich bereits auf eine der Bänke der anderen Straßenseite niedergelassen.

Zuerst fiel sie mir gar nicht auf. Wem wäre sie auch schon aufgefallen? Sie sah genauso aus wie jedes andere Mädchen, da war nichts besonderes. Aber nachdem ich sie drei Wochen hintereinander auf ein und derselben Bank zur gleichen Uhrzeit vorfand, wurde es schon ein wenig schwieriger sie zu übersehen.

Irgendwann wurde es für mich zur Gewohnheit jeden Morgen verstohlene Blicke zu dem Mädchen hinüberzuwerfen, die ungefähr im gleichen Alter sein musste, wie ich.

Muss sie nicht zur Schule gehen?, fragte ich mich.

Aber ich traute mich nie, sie das direkt zu fragen. Warum hätte ich das auch tun sollen? Ich kannte sie schließlich nicht. Wie eigenartig wäre es, wenn ich einfach zu ihr hingeschlendert wäre und sie danach gefragt hätte, ob sie denn nicht besseres zu tun hatte, als hier jeden Tag auf der Bank zu sitzen.
Okay, zugegebenermaßen: Ich hatte tatsächlich darüber nachgedacht. Aber auch nur ganz kurz. Ich war nun mal neugierig.
Doch diese Vorstellung war einfach zu seltsam. Ich verwarf diesen Gedanken ganz schnell wieder.

Es vergingen zwei Monate, ohne dass sich etwas an dieser Situation veränderte. Doch dann kamen die Herbstferien, und sie tauchte nicht mehr auf.

Jaja, ich weiß, ich war ein Idiot. Ich stand während meiner freien Tage so früh auf, um zu überprüfen, ob das mysteriöse Schulschwänzer-Mädchen auch während der Ferien da war.
Vielleicht war ich ja auch einfach nur neidisch.

So ungern ich es mir selbst auch nur eingestehen mochte: Ich war ein bisschen enttäuscht, als ich meine Straße entlanglief und sie an diesen frischen Oktobermorgen nicht wie immer auf der Bank antraf. Wobei "treffen" an dieser Stelle vermutlich auch ein wenig übertrieben war.
Oh Gott, hatte ich mich vielleicht zum Stalker entwickelt?
Alles nur das nicht ...

Ich vergeudete jeden meiner freien Tage damit früh aufzustehen und zu überprüfen, ob sie nicht vielleicht doch wieder an der gewöhnlichen Stelle wie sonst war. Fehlanzeige.
Mein Mut sank und ich fürchtete, dass sie nach den Herbstferien eventuell gar nicht mehr auftauchen würde.
Falls dies der Fall sein sollte, hätte ich für immer bereut, dass ich sie nie angesprochen hatte.

Aber pünktlich zum ersten Schultag nach den zwei Wochen schulfrei fand ich sie wieder auf der gleichen Bank wie immer vor.
Verrückt, dachte ich mir, freute mich aber insgeheim.

Am liebsten hätte ich sie noch am selben Tag nach der Schule abgefangen, aber immer wenn ich von der Schule nach Hause zurückkehrte, war sie verschwunden.
Na ja, das war vermutlich auch nur verständlich. Wer verschwendete schon seinen ganzen Tag damit auf einer Bank rumzusitzen und ... was tat sie dabei eigentlich? Starrte sie nur Löcher in die Luft?

Ich wusste es nicht. Nie hatte ich sie länger als für ein paar Minuten beobachten können. Ansonsten wäre es zu auffällig gewesen. Das Einzige, das ich von ihr mitbekommen hatte, war, wie sie einfach nur dasaß. Manchmal hörte sie dabei auch Musik. Zu gerne hätte ich gewusst, was für einen Musikgeschmack sie hatte.

Ich schwor mir, dass ich den nächsten Morgen dazu nutzen würde, sie danach zu fragen.
Keinen einzigen weiteren Tag würde ich verstreichen lassen, ohne dass ich auf sie zugehen würde.

Am nächsten Morgen stand ich extra früh auf, in der Hoffnung, dass sie zu der Zeit auch schon vor Ort war. Ungern wollte ich meinen Bus verpassen und zu spät zum Unterricht kommen. Der Lehrer, den ich am Mittwoch in der ersten Stunde hatte, verstand da absolut kein Spaß. Ein richtiger Kotzbrocken. Auf eine Standpauke von dem guten alten Herrn Prinke konnte ich gut verzichten. Mysteriöses Mädchen hin oder her.

Als mich mein Wecker so ungewohnt früh aus dem Schlaf riss, hätte ich ihn am liebsten aus dem Fenster geschmissen. Zu dumm nur, dass es verschlossen war.
Schnell besann ich mich eines besseren und rief mir in Erinnerung, warum ich so früh hatte aufstehen wollen.

Also machte ich mich 45 Minuten früher als gewöhnlich auf in Richtung Bushaltestelle. Zum Glück hatten sich meine Eltern bereits beide auf zur Arbeit gemacht. Bei dem Gedanken, ihnen irgendeine Erklärung auftischen zu müssen, warum ich heute früher aus dem Haus ging als gewöhnlich, musste ich beinahe stöhnen.

Ich wechselte die Straßenseite direkt, nachdem ich das Haus verließ. Als ich jedoch bei der Bank ankam, fand ich niemanden vor.

Ich verspürte einen Stich der Enttäuschung in meiner Brust und hoffte nur, dass man mir das nicht allzu sehr ansah.

Was sollte ich jetzt tun? Auf sie warten? Dann würde ich allerdings Stress mit meinem Lehrer bekommen, und das wiederum würde mir Ärger mit meinen Eltern einhandeln, die mir das für mehrere Wochen vorhalten würden und mir nicht mehr gestatten würden am Wochenende wegzugehen ...

Während ich innerlich mit mir selbst rang, näherte sich mir jemand von hinten. Allerdings war ich so sehr in meine Gedankengänge vertieft, dass ich erst merkte, dass sich da jemand hinter mir befand, als sich diese Person an mir vorbeischob und auf der Bank vor mir niederließ.

39 TageWo Geschichten leben. Entdecke jetzt