Tränenüberströmt lief ich aus dem Gebäude, dass ich über alles hasste. Es hatte mir alles genommen. Alles. Ich rannte und rannte und rannte. Bis mich meine Füße nicht mehr tragen wollten und meine Lungen drohten zu bersten. Ich schaute um mich herum. Ich war angekommen. Hier waren meine schönsten Erinnerungen entstanden. Ich hörte mein Herz protestieren: ,,Es kann doch nicht einfach vorbei sein. Das ist sicher nur ein schlechter Traum.“ Doch ich wusste, es war real. Dieser Schmerz, der durch meinen Körper und meine Seele floss, war nicht irgendein Hirngespinst. Zögernd bewegte ich mich auf die Brücke zu. Normalerweise strahlte sie in einem hellen Blau, doch heute erschien sie mir in einem matten Grauton, der hin und wieder etwas dunkler wurde. Ich stieg über das Geländer, welches vom Regen nass und kalt war. Man sagt kurz vor dem Tod, sieht man sein Leben, oder wichtige Augenblicke davon, wie eine Diashow an einem vorbeiziehen. Doch das stimmt nicht. Ich sah nur ihn. Sein Gesicht. Sein Lächeln an dem Tag, wo wir uns das erste Mal getroffen hatten. Sein erstaunter Blick, als ich ihn auf ein Date eingeladen hatte. Seine, vor Liebe blitzende Augen, als wir uns das erste mal küssten. Sein verunsicherter Ausdruck, als er mich fragte, ob ich mit ihm zusammen sein wolle. Seine Lachfältchen, die er mir immer zeigte, wenn er mal wieder über einen, seiner schlechten Witze lachte. Und als er schließlich anfing zu weinen, weil ich „Ja“ gesagt hatte. Seelig lächelte ich bei diesen Erinnerungen. Doch plötzlich überkamen mich die letzten, schrecklichen Momente, die ich mit ihm teilen musste. Der Tag, als der Lastwagen auf uns zufuhr und der betrunkene Lenker plötzlich auf unsere Fahrbahn kam. Wie er sich vor mich warf und seine letzten Worte: „Ich liebe dich.“ Die Rettung kam bevor er starb. Zwei Wochen lag er im Koma. Jeden Tag hoffte ich auf gute Nachrichten. Doch nie kamen welche. Und dann kam der Tag, an dem mein Herz zerbrach. Der Tag, an dem der Arzt sagte: „Es tut uns leid, er hat es nicht geschafft.“
Gerade als ich abspringen wollte, rief eine Stimme: „Warte!“ Verwirrt drehte ich mich um. Dort stand ein Junge. „Bitte spring nicht. Komm her“ ,sagte er sanft. "Das kannst du dir abschminken!", knurrte ich. Diese Stimme verwirrte mich. Die Gutmütigkeit in ihr war der seinen zu ähnlich. Vielleicht war das der Grund, wieso ich dann doch über das Geländer zurück auf festen Boden stieg. Lächelnd kam er zu mir und schloss mich in seine Arme. "Danke", flüsterte er in mein Ohr. Dann sah er mich an und fragte: „Wie heißt du?“ „Tim“ ,sagte ich. „Ich heiße Fabian. Schön dich kennenzulernen.“ Er sah mich durch seine dunklen Augen an und schwieg lange bevor er meinte: „Also gut. Willst du mir davon erzählen?“ Ohne nachzudenken antwortete ich: „Nein nicht jetzt. Vielleicht igendwann anders.“ Seine Augen weiteten sich. Glücklich fragte er: „Also wirst du nicht springen?“ Erst jetzt bemerkte ich, was diese Worte aus meinem Mund bedeuteten. Langsam nickte ich. Versuchen konnte ich es. An diesem Tag sah ich nach den zwei grauen Wochen endlich wieder eine Farbe. Das Ozeanblau Fabians Augen.Im Nachhinein bereue ich diese Entscheidung nicht. Obwohl ich nie ganz über seinen Tod hinweg gekommen bin, bin ich glücklich. Bereit für eine Beziehung bin ich noch nicht. Aber Fabian kann warten. Weil er mich liebt und weil er meine Ängste kennt. Und vielleicht auch weil er weiß, dass ich ihn auch liebe. Von ganzem Herzen.
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Erinnerung an verblasste Farben
Short StoryTim hatte alles verloren. Alles. Aber vor allem seine Hoffnung in das Leben.