Rettungsboot

3.1K 130 3
                                    

Er nahm seine warmen Hände von meinen Wangen, wendete den liebevollen Blick ab und räusperte sich.

„Sorry", murmelte er kurz und wandte dich dann ohne ein weiteres Wort ab.

Das Wasser plätscherte als er sich den Weg zum Ufer bahnte und mir den Rücken zuwandte. Kleine Wellen, die er auslöste, erreichten mich nicht mehr und die Sonne war hinter einer großen Wolke verschwunden. Die Kälte des Wassers drängte sich in den Vordergrund meines Bewusstseins und ich merkte, wie ich anfing zu fieren, doch ich konnte mich nicht rühren.

Was war gerade passiert?

Ich beobachtete wie er sich mit einer Hand durch seine blonden, nassen Haare fuhr und sein Hemd von dem Ast nahm um es wieder anzuziehen. Er wollte weg von hier. Ein Stein bildete sich in meinem Magen und drohte mich herunterzuziehen. Langsam setzte ich mich in Bewegung, starrte jedoch auf das Wasser und die Wellen die ich auslöste. Sanft und leise glitten diese über den See und verschwanden. Ich spürte den Boden des Sees unter meinen Füßen, wünschte mir jedoch, darin zu versinken.

Das Gefühl das ich hatte, war schlimmer, als jedes Gefühl, dass ich bisher hatte.

Es war nicht so ein Gefühl wie die bedrückende Einsamkeit oder das Gefühl der Hoffnungslosigkeit.

Nein, dieses Gefühl war weitaus schlimmer.

Die warme Sommerbrise, strich über meine Haut und spielte mit meinen langen Haaren, die teilweise schon trocken waren. Langsam trat ich auf das kleine Stück Wiese, dass vor dem See lag und legte peinlich berührt meine Arme umeinander. Nils schnürte sich gerade den letzten Schuh zu und schien, dafür seine volle Konzentration zu benötigen. Ich sah wie sich Falten auf seiner Stirn bildeten. Dann stand er auf, schaute mich jedoch nicht an. Stattdessen betrachtet er den Pfad und deutete mit seiner Hand hin.

„Wollen wir?"

Seine Stimme klang zögernd und keinesfalls mehr so fest, wie ich sie in Erinnerung hatte. Ich nickte nur als er mir einen kurzen Blick zu warf. Wieder ging er vor. Doch diesmal nahm er nicht meine Hand, denn diesmal war er schwer damit beschäftigt, Äste aus dem weg zu halten, damit wir durchkonnten. Ich merkte wie mein Blick traurig wurde und senkte ihn, sodass ich auf den Waldboden schaute, auf dem wir liefen. Als ich in den Schatten des Waldes trat, überkam mich sofort ein Kältegefühl und ich spürte wie sich eine Gänsehaut auf meinen Armen bildete. Der Geruch von Harz stieg in meine Nase und das zwitschern der Vögel wurde lauter.

„Habt ihr Lösegeld gefordert?"

Meine Stimme durchbrach die Mauer des Schweigens zwischen. Überrascht schaute mich Nils über eine Schulter an, blieb jedoch nicht stehen.

„Ja."

„Wie viel?"

„Der Millionen Euro."

„Soviel Geld hat mein Vater nicht."

„Dein Vater nicht, aber die Stadt."

Erneut schwiegen wir beide und nur unsere Schritte waren zu hören. Ich sah wie Äste unter seinen Füßen brachen und beobachtete kleine Vogelnester, in denen kleine Vögel saßen und nach ihrer Mutter riefen. Die Wolken mussten sich teilweise verzogen haben, denn einzelne Sonnenstrahlen, bahnten sich den Weg durch die Blätterschicht der Bäume und erreichten mein Gesicht. Ich beobachtete ein Eichhörnchen, das mich neugierig musterte. „Bis wann?", fragte ich vorsichtig und war auf jede Antwort gefasst.

„In Drei Tage."

Obwohl ich damit gerechnet hatte, dass ich zurück musste, war diese Antwort, wie ein Stich in mein Herz.

Drei Tage waren nicht lang.

Drei Tage waren Zweiundsiebzig Stunden.

Zweiundsiebzig Stunden waren Viertausenddreihundertzwanzig Minuten.

Viertausenddreihundertzwanzig Minuten waren Zweihundertneunundfünfzigtausendzweihundert Sekunden.

Das war die Zeit, die mir noch in dem Paradies blieb. Und danach würde alles so sein wie vorher. Ich spürte wie mir bei dem Gedanken der Rückkehr kalt wurde und presste meine Arme enger an mich.

„Ist dir kalt?"

Mein Kopf fuhr hoch und ich schaute in Nils braune Augen, die mich kritisch musterten.

„Ein bisschen."

Er zog sein Shirt aus und trat einen Schritt näher. Wie einem Kleinkind zog er mir das Shirt über den Kopf und schaute in meine Augen. Ich konnte nicht in diese Augen schauen, dich ich in wenigen Tagen nie wieder sehen würde. Sie durften mir nicht zu wichtig werden. Nicht mein Rettungsboot werden, dass anschließend verschwand. Mein Blick glitt zu Boden und ich versuchte mich auf die trockene, harte Erde unter meinen Füßen zu konzentrieren. Ich spürte wie seine rauen Finger sich unter mein Kinn legten und er es sanft anhob und mich zwang in seine Augen zu gucken.

„Keine angst. Du schaffst das schon mit deinem Dad. Da bin ich mir sicher."

Ein kleines Lächeln umspielte seine Lippen. Ich konnte vor Angst nicht sprechen und nickte wieder nur stumm. Die Erkenntnis, dass das Wiedersehen mit meinem Vater bald war, fühlte sich an, wie ein tritt in die Magengrube. Diese Angst schnürte mir die Kehle zu und ich fing an zu zittern.

Dann spürte ich sie.

Die heißen Tränen, die wie Regentropfen meine Wangen herunter liefen.

  „Hey, nicht weinen."

Mit seinen Fingern strich er vorsichtig über meine Haut und wischte die Tränen weg. Ich konnte nicht mehr Reden. Die Angst brach über mich herein und ließ mich fast Ohnmächtig werden. Er legte seine starken Arme um mich und drückte mich vorsichtig an sich. Seine Hände streichelten sanft meine Haare. Sein Duft stieg mir in die Nase und ich stand einfach nur da und ließ die Tränen laufen. Diese tropften auf seine Haut und bahnten sich einen Weg über seine Brust, hinunter bis zu seinem Bauch.

„Nicht weinen Kleine. Der Typ hat deine Tränen nicht verdient. Schau doch mal wie hübsch du bist. Lass dir deine Träume nicht von so einem Schwein zerstören."

Die Worte von ihm waren behutsam gewählt und er sprach sie wie eine Formel. Wie in Trance stand ich da, während er auf mich einredete. Doch ich verstand nicht alles was er sagte. Meine Gedanken waren bei meiner Vergangenheit. Die grauenvollen Stunden, die mein Vater nachts in meinem Zimmer war kreisten wie ein böser Geist in meinem Kopf und ich hatte das Gefühl, jeden Schlag den er mich gab, erneut zu spüren. Ich hörte wie meine Mutter schrie und weinte vor Schmerz. In meinen Ohren war ein Chaos und das einzige was mich ein wenig beruhigte, war mein Entführer, der mich sanft im Arm hielt und meinen Rücken streichelte.

Wer war dieser Junge bloß? Wieso brachte er mich so durcheinander und wieso konnte er mich trösten? Was hatte er, dass er für mich zu einem Rettungsboot geworden war? Und was würde geschehen wenn dieses versank?

Konnte ein Rettungsboot überhaupt verschwinden?

Gott war schließlich auch nicht anwesend und doch war er ein Rettungsboot für Millionen von Menschen. Aber was würde passieren, wenn ich wieder alleine in meinem Zimmer saß und vor Schmerzen weinte. Würde ich einfach so an ihn denken können und alles würde wieder gut sein? Oder würde der Schmerz nur schlimmer werden? Denn schon jetzt schmerzte der Gedanke ihn zu verlassen. Und das, obwohl ich ihn nicht kannte und er ein Schwerverbrecher war.



Entführt - Gerettet aus der HölleWo Geschichten leben. Entdecke jetzt