Einsamer Engel

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Etwas strich sanft über meine Wange und strich mir ein Haar hinters Ohr. Ich stöhnte leicht auf, als ich meine verspannten Muskeln spürte. Langsam erinnerte ich mich an den Abend und dass ich mit Ben schweigend im Wohnzimmer gesessen hatte. Wir hatten auf Nils gewartet, der abgehauen war.

Ich musste eingeschlafen sein.

Ich öffnete meine Augen und erblickte Nils Gesicht. Sofort stieg mir der mir nur zu bekannte Geruch von Alkohol in die Nase und weckte Erinnerungen an meinen Vater. In seinen Augen lag etwas Undefinierbares und sein blondes Haar fiel ihm leicht ins Gesicht. Ich öffnete meinen Mund um etwas zu sagen, doch bevor ich auch nur einen Laut von mir geben konnte, legte er einen Finger auf meine Lippen und schüttelte den Kopf. Verwirrt blickte ich in seine Augen und bemerkte wie sich ein schmerzlicher Ausdruck auf seinem Gesicht bildete. Seine Augen betrachteten jeden Zentimeter meines Gesichtes, als würde er versuchen es in sein Gedächtnis zu brennen. Er beugte sich ein Stück nach vorne und küsste mich zärtlich auf die Stirn, woraufhin ein kalter Schauer über meinen Rücken lief und ein Kribbeln sich in meinem Magen ausbreitete.

„Nils?", flüsterte ich leise.

„Pscht", nuschelte er und drückte sein Gesicht in mein Haar. Nils atmete tief ein und legte seine Hand auf meine Wange.

„Du bist so wunderschön. Wie ein Engel", flüsterte er in mein Haar und ich bemerkte, dass er schon ein wenig am lallen war.

„Du bist betrunken."

Er löste sich ein Stück von mir, sodass er mir in die Augen schauen konnte.

„Kinder und Betrunkene sagen immer die Wahrheit oder?"

Nils griff neben sich und zog eine Falsche hervor aus der er einen tiefen Schluck nahm. Erneut erkannte ich den Geruch von starkem Alkohol. Er setzte die Flasche ab und starrte mich nachdenklich an. Dann riss er mich in seine Arme und hielt mich fest. Nils fing mich mit seinen Armen ab, sodass ich nicht auf den harten Holzboden knallte. Plötzlich spürte ich wie etwas auf meine Wange tropfte .Langsam bahnte sich die Träne den Weg zu meinem Hals um von dort in meinen Ausschnitt zu laufen. Nils entfuhr ein leises Schluchzen und ich brauchte einen Moment bis ich realisierte, dass er weinte.

Überrumpelt verharrte ich in seinen Armen und ich versuchte zu verstehen, weswegen ein Gangster, wie er einer war weinte. Doch bevor ich nach dem Grund für seine Tränen fragen konnte, sah ich wie Jemand eine Hand auf seine Schulter legte. Ich hob meinen Kopf und erkannte die schattenhaften Umrisse von Ben. Als hätte Ben etwas gesagt, ließ Nils mich los und erhob sich langsam. Ich rutschte auf den harten Holzboden und blickte den beiden jungen Männern nach.

„Ich will das nicht Ben", lallte Nils aufgelöst.

„Ich weiß, aber es geht nicht anders."

„Bitte Ben finde eine andere Möglichkeit."

„Es geht nicht."

„Ich KANN das nicht Ben! Ich kann das nicht."

Nils aufgebrachte Stimme wurde immer leiser, bis sie vollkommen verstummte. Ich sah noch wie Ben Nils stütze und ihm ins Schlafzimmer begleitet. Regungslos und trotz der Schmerzen, die der harte Holzboden auslöste, verharrte ich an der Stelle und in der Position in der Nils mich hat fallen lassen. Nun bemerkte ich, dass mein Herz raste. Schlagartig war ich hellwach. Das Bild, das ich einst von dem kalten, kompromisslosen Verbrecher gehabt hatte, verblasste immer mehr und zum Vorschein kam ein zerbrechlicher Junge, der schwere Schicksalsschläge gehabt hatte. Wie in Trance blickte ich zu der Schlafzimmertür und verspürte einen Drang den Beiden zu folgen, doch ich war wie gelähmt.

Jede Faser meines Körpers widersetzte sich meinem Willen. Meine Gedanken rasten zurück in die Vergangenheit und auf jede schlechte Erinnerung folgte eine gute. Und zu meinem großen Verwundern kam in jeder guten Erinnerung Nils vor. Selbst die Entführung, die in dem Supermarkt begonnen hatte, war gut für mich. Wahrscheinlich war ich psychisch krank oder hatte Halluzinationen. So eine Entführung war schließlich traumatisierend. Das sagten immerhin alle. Ein leises Klicken riss mich aus meinen Gedanken und ich wandte meinen Blick zu Ben, der aus dem Schlafzimmer trat. Trotz der Dunkelheit erkannte ich seine geschwollene Nase und einen nachdenklichen Gesichtsausdruck.

„Ben?", flüsterte ich leise, woraufhin dieser mich kalt anblickte.

„Du schläfst auf der Couch."

Die Kälte in seiner Stimme lies mich erstarren. Wortlos schmiss er eine Decke vor meine Füße und schaute verachtend auf mich hinab. Ohne ein weiteres Wort wendete er sich ab und verließ das Wohnzimmer. Mich ließen sie, auf dem harten Holzboden liegend, zurück. In Zeitlupe raffte ich mich auf und hob die Decke hoch, die mir wie Blei vorkam. Sie war kalt und schlicht. Nichts Besonderes. Langsam schritt ich zu der Couch auf der ich schon geschlafen hatte und setzte mich.

Ich realisierte nicht was in den letzten Stunden geschehen war, jedoch wusste ich, dass etwas schief gelaufen war. Ich legte mich seitlich hin, sodass ich in den Wald blicken konnte, der in eine nächtliche Schwärze getaucht war. Die Decke zog ich mir bis zur Brust und legte meinen Kopf auf eine Hand. Dann kamen die Erinnerungen wieder hoch. An meinen Vater und wie ich alleine in meinem Bett lag. Sofort hatte ich das Gefühl erdrückt zu werden und bildete eine Faust. Meine Fingernägel bohrten sich in meine Handflächen, doch der Schmerz war erträglicher, als die Realität.

Hatte ich etwas falsch gemacht? Wies verachtete mich Ben auf einmal? Wir hatten uns doch bis vor wenigen Stunden blendend verstanden und uns um Nils gesorgt. Was war in so kurzer Zeit geschehen, dass er mich verachtete? Verachtete mich Nils auch?

Ich spürte wie die Tränen mir die Wangen runter rannten. Die Einsamkeit schlich sich durch die Nacht und ergriff mich erneut mit ihren Klauen. Ich raffte die Decke enger an mich und schlief nach einer Ewigkeit voller Tränen ein.


Ich stand in der Küche und wusch das Geschirr ab, als er eintrat. Seine Präsenz kam dem einen bösen Dämon gleich. Ich hörte wie ein Stuhl über Holz kratze und er sich anschließend mit einem Knarren niederließ. 

„Wo ist das Essen?" Ich zuckte leicht zusammen als seine laute Stimme, die eben noch so ruhige Umgebung durchbrach.

„Im Kühlschrank", antwortete ich leicht sarkastisch. Er gab ein lautes Grunzen von sich und ging zu dem Kühlschrank, doch bevor er diesen öffnen konnte, ertönte unsere Klingel. Zu meinem Verwundern ging er selber um die Tür zu öffnen.

Sonst schickte er immer mich. Ohne drüber nachzudenken, wusch ich das Geschirr weiter. Doch schon wenige Sekunden später, drangen mir bekannte Stimmen ans Ohr. Ich hielt inne und horchte. Ich schloss meine Augen, als ich erkannte, dass Kai und Lukas die Besucher waren. 

„Bitte nicht", flüsterte ich und versuchte mir selber Mut zuzureden. Ich dachte es würde nichts passieren, denn ich hörte wie die Tür zuging und mein Vater in die Küche trat. Erleichtert atmete ich aus, doch dann wurde ich unsanft am Arm gepackt und herum gerissen.

„HABE ICH DIR NICHT GESAGT, DASS DICH NIEMAND ANPACKT AUßER MIR?!" 

Ich schaute in sein Gesicht, das vor Wut rot angelaufen war, doch diesmal konnte mich die Angst vor den Schlägen nicht davon abhalten, ihm meine Meinung zu sagen. „Niemand, absolut Niemand, fasst mich ohne meine Erlaubnis an", zischte ich, woraufhin er mit seiner Hand ausholte. Ich schloss meine Augen und wartete auf den Schmerz.



Entführt - Gerettet aus der HölleWo Geschichten leben. Entdecke jetzt