PART I - Shattered
Bennett seufzte und starrte weiter aus dem Fenster ohne die Wiesen im Sonnenuntergang wirklich zu sehen. Draußen grasten die Pferde des Gestüts seines Vaters, irgendwo darunter auch eine weiße Stute – Dawn, Bennetts Pferd. Das Pferd, mit dem er noch vor einigen Wochen in England für die die Jugendmeisterschaft trainiert hatte. Vor dem Tag. Vor dem Moment, als Bennett entschied, ein fremdes, junges Pferd zu reiten. Harlequin.
Harlequin war der Grund, dass Bennett nie wieder ein Turnier reiten würde – vielleicht könnte er überhaupt nie wieder reiten. Er warf einen verbitterten Blick auf seine linke Hand. Sie steckte in einer Schiene, die Haut war von roten Narben überzogen, wie ein hässliches Spinnennetz. Immer wieder zuckte sie unkontrolliert. Bennet versuchte sie zur Faust zu ballen, aber sogar das gelang ihm nicht. Seine Hand gehorchte ihm nicht. Die Nerven waren dauerhaft geschädigt. Er konnte von Glück sagen, dass er seine Hand überhaupt noch bewegen konnte.
Klar, Glück. Glück, dass das Pferd nicht auf ihn gestürzt war, sondern nur auf seine Hand, Glück, dass er sich bei seinem Sturz nicht das Genick gebrochen hatte, Glück, dass er so schnell operiert werden konnte, Glück, dass er Rechtshänder war. Bennett hasste es. Seine Hand war nutzlos. Zum Reiten brauchte er zwei gesunde Hände.
Vielseitigkeitsreiten war der großartigste Sport der Welt – er brauchte Mut, Eleganz und Fingerspitzengefühl in jeder Disziplin. Fingerspitzengefühl. Bennett konnte kaum die Hälfte seiner Hand spüren und wenn doch, dann brauchte er meist starke Schmerzmittel. Vor acht Wochenhatte er noch in England an der Stonar School trainiert – einer der besten Privatschulen in England für Pferdesport. Er war einer der Stipendiaten gewesen, aber nach seiner Verletzung musste er aufhören. Heute verbrachte er den ersten Abend nach einem langen Krankenhausaufenthalt in seinem Zimmer und starrte Löcher in die Luft.
„Klopf, klopf!" Bennett schreckte hoch. Durch das offene Fenster schaute ein blonder Haarschopf herein. „Alex!" Bennett verzog sein Gesicht unwillkürlich zu einem kleinen Grinsen. Alexandra war seine beste Freundin seit er denken konnte, sie zu sehen hob seine Laune sofort – ob er wollte oder nicht. „Wie geht's dir?" Alex kletterte zum offenen Fenster herein und strich sich eine widerspenstige Strähne aus dem Gesicht. Seit sie etwa 14 waren, besuchte Alex Bennett auf diese Art. Sie waren immer schon beste Freunde gewesen, aber als es mit 13 oder 14 uncool wurde, mit den Jungs befreundet zu sein, hatte Alex angefangen durchs Fenster in Bennetts Zimmer zu klettern. Und jetzt drei Jahre später tat sie das immer noch. Es war eine Art Tradition. Alex kam fast nie durch die Tür.
„Hey, wie geht's dir? Der Hand?" Alex ließ sich neben Bennett auf das Bett fallen und schaute zu seiner Linken. „Was denkst du denn? Vollkommen nutzlos." Alex nickte und warf ihm einen mitfühlenden Blick zu. Sie wusste, was passiert war. Natürlich wusste sie es. Sie hatte das Video gesehen. Bennet brauchte kein Video um sich an jede verdammte Sekunde zu erinnern. Harlequins Galopp, der Rhythmus seiner Hufe auf dem weichen Boden, der Moment des Absprungs – sein Vorderbein, das sich zwischen den Stangen verfing und der Moment als er stürzte. Das Wiehern, fast Schreien, als das junge Pferd spürte, dass es stürzte und dann der Sturz. Bennet verlor das Gleichgewicht und fiel nach vorne über den Pferdehals in den Sand. Der Sturz trieb im die Luft aus den Lungen und er bekam Sand in Mund und Nase, aber noch bevor er sich abrollen konnte, spürte er, wie das Pferd neben ihm strauchelte. Und dann stürzte er. Bennet war noch benommen von dem Sturz, er konnte nichts sehen, der Staub in seinem Mund ließ ihn kaum atmen und er war groggy von dem Aufprall. Das nächste an das er sich erinnerte, war Schmerz. Unglaublicher Schmerz, als seine Hand unter dem Pferd begraben wurde und ein Holzspan sich tief in seine Hand bohrte.
Seine Erinnerung setzte im Krankenhaus wieder ein. Er hatte einen offenen Bruch, gerissene Sehnen und einen kaputten Nerv. Eine Spezialklinik in London hatte Bennett noch am gleichen Tag operiert, aber die Verletzung war schwer und einige Tage lang waren sie nicht einmal sicher, seine Hand erhalten zu können. Zum Glück war er so nahe an London gewesen – wieder einmal sein verdammtes Glück.
„Übernimmst du Dawn für mich?" fragte Bennet. Er konnte die Stute aus dem Fenster sehen, wie sie zwischen den anderen Pferden graste. Sein Champion. Das Pferd, mit dem er so viele Turniere gewonnen hatte. Sie würde weiter Preise gewinnen – nur ohne ihn., Alex schaute auf. „Sie ist dein Pferd!" Bennett zuckte nur die Schultern und schnaubte. „Ich kann sie sowieso nicht reiten. Wie denn?! Meine Hand ist nutzlos!" Wie zum Beweis zuckte seine Hand wieder unkontrolliert und der Versuch, sie zur Faust zu ballen, verschlimmerte es nur so, dass seine Tabletten vom Bett rutschten. Bennet wollte sie aufheben, aber seine Hand zitterte und jedes Mal, wenn er versuchte, etwas zu greifen war die Bewegung zu schwach oder er griff nicht richtig zu. „Fuck it!" Alex griff in einer schnellen Bewegung zu und reichte Bennet die Pillen. „Das wird schon wieder." Murmelte sie. „Du hast doch Reha, oder?" „Ab Morgen. Aber davon wächst der Nerv nicht zusammen. Ich spüre nichts. Alex, ich spüre so gut wie gar nichts in vier von fünf Fingern. Wie soll damit reiten? Ich kann keine Zügel halten, ich kann kein Pferd satteln oder trensen – ich kann es nicht einmal putzen!" rief Bennet aufgebracht und fuchtelte mit seiner geschienten Hand vor ihrem Gesicht herum. Er war ein Krüppel.
„Du warst deutscher Jugendmeister mit nur 15 Jahren!" widersprach Alex. „Wir trainieren zusammen, seit wir sechs Jahre alt sind. Ich hab dich hundert Mal vom Pferd fallen sehen – du bist jedes verdammte Mal wieder aufgestiegen. Ich hab gesehen, wie du mit Dawn eine Kür stundenlang geübt hast, obwohl du die Dressur hasst. Ich hab gesehen, wie du über Hindernisse gesprungen bist, die älteren, viel erfahreneren Reitern Angst gemacht haben. Du hast nie Angst gehabt. Du musst es nur versuchen. Du kannst mit einer Hand reiten. Wie oft hast du es denn schon gemacht? Im Galopp über die Felder mit mir, Hand in Hand. Nur eine Hand an den Zügeln, beim Weihnachtsfest auf dem Hof, beim Ringe stechen vom Pferd aus?" „Das sind Spiele! Wie soll ich denn eine Kür reiten mit einer Hand? Wie soll ich ein Pferd über einen Springplatz lenken, eine enge Wendung reiten?" Bennet griff nach der Pillendose und versuchte, sie aufzuschrauben, aber auch dafür war seine linke Hand zu schwach und zu unkontrolliert. Schließlich klemmte er die Verpackung zwischen seinen Knien ein um sie zu öffnen. Alex schaute fast angewidert zu, wie er eine der Pillen schluckte. „So wirst du es auch nie lernen." Sagte sie bitter. „Man, bei den Paralympics reiten Athleten mit Beinprothesen oder ganz ohne Arme – du hast nur eine kaputte Hand! Dawn ist ein Spitzenpferd – wenn du es versuchst, gewinnt sie alles für dich." Bennet schnaubte. „Ich werde sie nicht reiten. Entweder du tust es, oder keiner. Also fängst du besser an, mit nur einer Hand zu leben." Mit diesen Worten stand Alex auf, öffnete das Fenster und kletterte wieder heraus. Bennet schaute ihr wütend nach. Für Alex sagte sich das so einfach – sie hatte keine ständigen Schmerzen, keine 3 Operationen hinter sich, keine Monate der Physiotherapie vor sich. Sie hatte zwei gesunde Hände. Immer noch aufgebracht griff er mit links nach dem Fenstergriff, aber seine Finger rutschten ab. Er spürte den Griff nicht einmal. Irgendwie ernüchterte ihn das. Er war unfair gewesen. Alex hatte ja Recht. Es gab Reiter, die viel schlimmere Unfälle hinter sich hatten oder von Geburt an mit einer Behinderung leben mussten. Und viele davon waren viel besser, als er. Dawn war ein unglaublich talentiertes Pferd. Vielleicht könnte er ihr wirklich beibringen, anders auf ihn zu reagieren. Pferde waren sehr intelligent. Wie zur Bestätigung schaute die Stute nach oben und schnorchelte leise. Bennet pfiff einmal kurz und beobachtete, wie Dawn ihre Ohren nach vorn drehte. Sie vermisste ihn und Bennet vermisste sie auch. Das Gefühl, wieder im Sattel zu sitzen.
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Born to be the Best
Teen FictionBennet ist ein Glückspilz. Er hatte Glück, den Unfall zu überleben; Glück, seine Hand nicht zu verlieren; Glück, in der Nähe von London gewesen zu sein. Für Bennet bedeutet der Unfall nur, dass er seinen geliebten Sport nicht mehr machen kann - dass...