Erzählung 66

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Was geschah hier nur mit mir? Im Schneidersitz und den Kopf gesenkt saß ich auf dem Bett und ordnete meine Gedanken und Gefühle. Versuchte es zumindest. Die Eifersucht kannte ich ja bereits, doch war das andere Gefühl wirklich Hass gewesen? Ich horchte in mich hinein. Noch nie hatte ich so etwas gegenüber Chris gespürt. Und so sehr ich auch einen anderen Begriff, ein anderes Gefühl suchte, der die Emotionen in mir treffend beschrieb, so war Hass doch das einzige was passte. Aber ich konnte ihn doch nicht wirklich hassen. Ich konnte doch meinen kleinen Bruder nicht hassen. Ich versuchte das Gefühl zu bekämpfen indem ich an alle schönen Dinge, alle glücklichen Situationen dachte, die ich mit Chris in Verbindung brachte. Erinnerung um Erinnerung spielte sich in mir ab, doch sie konnten dieses neue Gefühl nicht vertreiben. Verzweiflung durchflutete mich und ich vergrub mein Gesicht in meinen Händen, während heiße Tränen aus meinen Augen rannen. Das konnte nicht sein. Das durfte nicht sein. Meine Hände glitten weiter nach oben und gruben sich in meine Haare. Warum passierte das nur? „Andreas?", riss mich Chris Stimme aus meinen Gedanken. Ich bewegte mich nicht mehr und verkrampfte mich. Mit einem Augenblick waren alle guten Erinnerungen in Vergessenheit geraten. Meine Augen verengten sich zu Schlitzen, doch noch immer war mein Gesicht durch meine Arme verdeckt, sodass Chris es nicht sehen konnte. „Andreas?", wiederholte er seine Worte und schien nun näher zu sein als zuvor. Ich hob meinen Kopf ein paar Zentimeter, verbarg mein Gesicht aber immer noch. Chris stand direkt vor mir vor dem Bett und ich vermutete, dass er nachdenklich oder besorgt zu mir heruntersah. Ich wusste es nicht, da ich seinen Kopf nicht sehen konnte. Dazu hätte ich meine Hände aus meinen Haaren lösen müssen und das wollte ich nicht. Ich wollte ihn nicht sehen. Ihn, der auf einmal so gut Freund mit Eva war. Ihn, der das tat wovor ich ihn beschützen wollte: Eva nicht mehr zu hassen und das alles hier hinzunehmen. Also genau das zu tun was ich gerade tat. Ich senkte meinen Kopf wieder und hoffte einfach, dass er mich in Ruhe lassen würde. Doch natürlich tat er das nicht. „Andy", wiederholte er und ich spürte eine Hand auf meiner Schulter. „Lass mich in Ruhe", murmelte ich und zog meine Schulter sachte weg. Doch Chris schien das nicht im Geringsten zu interessieren. „Andy was...." „Nimm. Deine. Hand. Da. Weg", unterbrach ich ihn barsch, wobei ich jedes Wort einzeln betonte, löste meine Finger aus meinen Haaren und starrte meinen Bruder grimmig an. Verdutzt zog Chris seine Hand zurück. Kurze Zeit hielt er sie in der Luft bis er sie sinken ließ. „Was... was ist denn los?" „Was los ist? Das fragst du noch?" Meine Stimme hörte sich genau so an wie ich mich fühlte: richtig angepisst. „Ja. Denn ich habe nicht den blassesten Schimmer." Ich lachte einmal auf und löste dann meine Beine um mich an die Bettkante zu setzen. Chris war ein paar Schritte zurück gegangen und stand nun etwa einen halben Meter vor mir. „Dann denk mal drüber nach." Mit diesen Worten stand ich auf und ging in Richtung Bad. Als ich an Chris vorbeikam rempelte ich ihn mit der Schulter an und lief weiter. Ich hatte echt keine Lust jetzt noch mit ihm zu diskutieren. Doch ich kam nicht weit, denn Chris hielt mich am Oberarm fest und drehte mich mit einem Ruck zu sich herum. „Verdammt was ist los mit dir?" Ich versuchte meinen Arm aus Chris' festen Griff zu reißen, doch ich scheiterte und funkelte ihn stattdessen böse an. „Was mit mir los ist? Das Gleiche könnte ich dich fragen! Wer fängt denn plötzlich an sich mit Eva anzufreunden?" „Was?" Offensichtlich hatte er mit allem, außer dieser Frage gerechnet, denn er blickte mich fassungslos an und lockerte den Griff seiner Hand. Ich nutzte die Gelegenheit und riss mich los. „Du bist doch der, der Eva vorhin so lieb und freundlich angelächelt hat." „Das habe ich vielleicht nur getan damit es keinen Ärger gibt? Ich lächle sie doch immer mal an", redete mein Gegenüber sich raus. Ich verdrehte die Augen, wandte mich von ihm ab und wollte wieder loslaufen, doch erneut wurde ich zurückgehalten. „Hey lauf jetzt nicht weg. Was ist dein Problem?" Ich hörte wie Chris versuchte seine Stimme normal klingen zu lassen, doch der genervte Unterton war nicht zu überhören. Langsam drehte ich mich wieder zurück und sagte erstaunlich ruhig: „Du willst also wissen was mein Problem ist ja?" Ich verschränkte die Arme vor meiner Brust, während Chris, scheinbar etwas eingeschüchtert, nickte.

Ihr. Entkommt. Nicht!Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt