Liam

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Liam war sich sicher, dass Cara soeben vorgehabt hatte wieder nachhause zu fahren. Verübeln konnte er es ihr nicht, ein Blick auf sein Handy verriet ihm, dass er über eine halbe Stunde zu spät war. Letztendlich wäre ihm das Zustandekommen der Verabredung ohnehin unwichtig gewesen, er hatte sich nur darauf eingelassen, um der langsam unerträglich werdenden Eintönigkeit in seinem Zimmer zu entkommen. Den ganzen gestrigen Tag hatte er auf den einen erhofften Anruf gewartet, stattdessen hatte sich Cara gemeldet, das aufdringliche Mädchen mit dem zu großen Mundwerk. Es hatte etwas Zeit gekostet, bis Liam sie wieder als Mitschülerin im Kunstkurs einordnen konnte. Außerdem war sie ständig an Taleas Seite und vermutlich ihre Freundin, vielleicht würde ihm das eines Tages von nutzen sein.

»Schön das du auch mal auftauchst«, empfing ihn Cara strahlend. Darauf folgten ein steifes Lachen und eine noch steifere Umarmung. »Ich dachte schon du kommst gar nicht mehr.«

»Ehrlich gesagt habe ich die Verabredung vergessen«, sagte Liam kühl. »Ohne deine Nachricht vor einer Stunde wäre ich jetzt wahrscheinlich gar nicht hier.« Für Liam war all das noch ziemlich unbekanntes Terrain. Er hatte sich schon seit einer Ewigkeit nicht mehr aus Spaß und ohne ein klares Ziel im Hinterkopf mit einer Person getroffen. Schon von klein auf wurde ihm eingetrichtert, dass spaßige Unternehmungen, wozu derartige Verabredungen gehörten, nur das Hirn mit allerlei Unsinn vernebeln und von den eigentlichen Pflichten ablenken würden, etwas was Liam nicht passieren durfte. Sein Vater würde vor Wut toben, wenn er ihn jetzt so sehen würde, doch dieser hatte sich schon seit Tagen nicht mehr zuhause blicken lassen, wahrscheinlich befand er sich mal wieder auf einer etwas länger andauernden Jagd.

Etwas bestürzt wirkend zog Cara ihre Stirn in Falten.

»Sorry«, sagte Liam und ihre Gesichtszüge glätteten sich wieder. Er stutzte. Dieses Mädchen schien keine Wut oder jegliche Art von Groll zu kennen, eine Eigenschaft, die er selten bei weiblichen Wesen vorfand. Möglicherweise war sie doch eine ganz nette einmalige Abwechslung von seinem strukturiertem Alltagsleben.

»Wohin soll es denn zuerst gehen?«, fragte Cara munter und hielt Liam ihr Handy vor sein Gesicht, auf dem verschiedene Kinofilme zu sehen waren. »In einer halben Stunde läuft ein irre guter Horrorfilm, den wollte ich mir schon lange mal anschauen. Wir können aber natürlich auch erst etwas essen gehen und uns dann Die Notiz um 22 Uhr anschauen. In der Nähe gibt es einen richtig guten Inder und eine fancy Pizzeria, die ein ganzes Pizza-Buffet für schlappe zehn Euro anbietet. Oder wir gehen zu dem einen chinesischen Restaurant in der Nähe von der Kirche, kennst du den? Die Pekingsuppe dort ist wirklich göttlich und... «

»Der Horrorfilm«, entschied Liam schnell. Seine aufgekeimte Hoffnung, dass Cara für etwas Unterhaltung und Ablenkung sorgen könnte, verschwand mit einem Schlag; was hatte er sich auch dabei erhofft. Kinofilmbesuche mit einem einfältigen Mädchen an der Seite waren im Moment eigentlich das Geringste, wofür er sich interessieren sollte.

»Einverstanden«, rief Cara und deutete mit ihrem Zeigefinger auf eine kleine Seitenstraße. »Das ist der schnellste Weg zum Kino, mit dem sind wir im Nullkommanix da.«

»Wenn du meinst.«

Liam verdrehte innerlich die Augen, während er Cara lustlos folgte. Erst jetzt fiel ihm ihre Bekleidung auf. Mit einer hochgezogenen Augenbraue musterte er Cara von oben bis unten. »Ist dir nicht kalt?«, fragte er mit einem skeptischen Blick auf die offene Jacke und dem darunterliegendem dünnen Oberteil. Cara errötete etwas als sie mit zusammengebissenen Zähnen antwortete: »Ich bin doch keine Frostbeule.«

Den Rest des Weges legten beide schweigend hinter sich. Liam war in Gedanken mit seinem Plan beschäftigt, der bis jetzt noch nicht so aufgegangen war wie erwartet. Er musste schnell tätig werden und sich einen neuen geschickten Schachzug einfallen lassen. Viel Zeit blieb ihm nicht mehr, er hatte vor einigen Wochen herausgefunden, dass es sich nur noch um knapp vier Monate handelten. In dieser Zeitspanne musste er unbedingt schaffen, dass Vertrauen des Mädchens für sich zu gewinnen. Zwar schien sie skeptischer zu sein als in der Vergangenheit, distanzierter und vorsichtiger als er es bisher gewohnt war, doch an dem Erfolg seiner Taktiken zweifelte er dennoch nicht. Sie waren bei den letzten Malen mehr als zufriedenstellend gewesen und würden auch dieses Mal gelingen, da war er sich sicher.

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