Liam

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Jahr 905

Ein beißender Gestank war in der Luft wahrzunehmen. Mit einer schleichenden Zielgenauigkeit verbreitete er sich durch das Dorf und verschaffte sich einen Zugang zu den privaten Schlafzimmern. Menschenmassen drangen aus ihren kleinen Häusern und durchbrachen mit ihren Stimmen urplötzlich die Stille der Nacht. Kleine Kinder wurden unsanft aus dem Schlaf gerissen; junge Mädchen klammerten sich an den Händen ihrer Mütter fest, während die Buben schlaftrunken an den Seiten ihrer Väter marschierten. Gemeinsam liefen sie durch die engen, sonst um die Uhrzeit so menschenleeren Gassen. Ohne zu wissen wohin es sie führte, folgten sie den nebelähnlichen Schwaden, die das Dorf mit einem unheimlich aussehenden, grauen Mantel umhüllte. Je näher sie ihrem Ziel kamen, desto dichter wurden die Schwaden und desto unschärfer wurde die Sicht.

Der Weg endete an einem Haus, aus dessen Fenstern gewaltige Flammen emporschlugen. Sie fraßen sich langsam, aber gnadenlos durch Holz und Stroh, Bretter und Lehm. Die Dorfbewohner hielten schockiert ihren Atem an.

Vor dem Haus hockte ein kleiner Junge mit verstrubbelten, dunkelbraunem Haar und mit Ruß bedecktem Gewand. Ängstlich saß er da, hatte seine Beine eng an die Brust angewinkelt und mit seinen dünnen Ärmchen umklammert. Sein Kopf war vom Szenario vor ihm abgewendet und auf einem seiner Arme abgelegt. Trotz der immer stärker steigenden Wärme, zitterte der Junge am ganzen Körper, brachte seinen schmächtigen Leib zum beben.

Schnelle Schritte waren zu hören, die aus dem brennenden Haus hinaus eilten. Ein Mann keuchte und hustete lautstark, bewegte seine Beine in die Richtung seines Sohnes und brach daraufhin kraftlos in sich zusammen. Verschreckt richtete sich der Junge auf, rannte hastig zu dem Mann, dessen Gesicht nun tränenüberstömt war und rüttelte verzweifelt an seinen Schultern.

»Wo ist Mutter«, schrie der Junge hilflos mit seiner hellen Stimme. »Wo ist Mutter?!«

Der Mann verdeckte seine nassen Augen mit seinen Händen und stieß einen qualvollen, mit tiefem Schmerz erfüllten Schrei aus. Einige Kinder begannen zu weinen, die Augen der Zuschauer waren voller Entsetzen und Mitleid. Einige Männer waren losgestürmt und kamen nun schweißgebadet mit schweren, wassergefüllten Eimern zurück. Gemeinsam schafften sie es schließlich, das wütete Feuer zu löschen. Der Rauchschwaden löste sich auf und mit ihm verflog auch der ätzende Geruch so geschwind, wie er gekommen war. Mit einem lauten Aufschlag fiel das, was vom Haus noch übrig geblieben war, in sich zusammen.

Auch die zahlreichen Umarmungen der bestürzt wirkenden Dorfbewohner konnten den kleinen Jungen nicht trösten. Nachdem sie fort waren, standen sein Vater und er noch stundenlang ohne sich zu regen vor dem Ergebnis der flammenden Zerstörung. Bis auf die Überreste ihres ehemaligen Hauses und der schwarz glänzenden Asche, war nichts zurückgeblieben.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Oct 06, 2017 ⏰

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