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Ein gigantischer Platz tut sich vor uns auf. Früher scheint dies einmal eine Wiese gewesen zu sein, doch durch viele Füße, die immer und immer wieder hinüber getrampelt sein mussten, war die Erde festgestampft wurden und bot keinerlei Möglichkeiten für Gewächse sich auszubreiten. Auf dem Platz befinden sich noch mehr Menschen als zwischen den Häusern auf den Wegen, die wir passiert haben. Ein Podium ist an einem zentralen Randpunkt errichtet.

Mein Blick schweift über die Menge. Große und kleine Leute, dicke und dünne, hellhäutige und dunkelhäutige, freizügige und vermummte Leute. Sie alle blicken interessiert zu unser herüber und je näher ich sie betrachte, desto mehr fällt mir auf, wie sehr sie sich von meiner Vorstellung von Inselbewohnern unterscheiden.

In Filmen sind Inselbewohner immer dunkelhäutig und halb nackt. Der Anführer ist ein älterer Mann, der in vielen Fällen auch dick ist. Häufig hat er eine hübsche Tochter oder einen heißen Sohn. Die Realität unterscheidet sich jedoch etwas.

Wenn ich mir den Kerl vor mir anschaue, sehe ich keinen alten weisen Mann, sondern einen jungen Kerl Anfang dreißig, der ein bisschen mager ist. Er läuft allerdings auch nicht halb nackt herum, sondern trägt Hose und Oberteil, auch wenn man beiden Teilen ansieht, dass sie selbst hergestellt worden sind. Seine Hautfarbe ist etwas blass und seine Haare in einer Art straßenköterblond.

Eine Frau tritt an seine Seite. Ihre Haare sind von einem Tuch verhüllt, sodass nur ihr Gesicht zu sehen ist. Wie der Anführer trägt sie selbstgemachte Kleidung, aus einem mir bisher unbekannten Material. Ihre Farbe ist eine Mischung aus beige und matschbraun.

Ich spüre eine Hand an meiner und drücke sie ohne hinzusehen. Sie fühlt sich kalt an, aber dennoch so, als würde sie genau dort hingehören.

Das Gefühl der Hand in meiner genießend folge ich dem Anführer und der Frau weiter zu einem Gebäude nahe dem Podium. Dem Kapitän lasse ich am Eingang den Vortritt und wenig später sitzen wir in einer gemütlichen Runde zusammen. Die Hand, die ich die ganze Zeit gehalten hatte, habe ich aus meiner verloren und ich sehne mich danach sie wieder halten zu dürfen. Traurig betrachte ich meine Finger. „Sie sehen so leer aus", denke ich trübselig.

Caspar Donnelli erklärt währenddessen dem Anführer und seiner Frau unsere Lage. Er erzählt kurz und knapp, wie wir nach der Schwärze erwacht und seither auf der Suche nach Land sind. Die Stirn der Inselbewohner sind gerunzelt und in nachdenkliche Falten gelegt. Dennoch unterbrechen sie ihn kein einziges Mal.

„Ihr seid erst vor wenigen Tagen aus der Schwärze erwacht?", fragt die Frau am Ende skeptisch und wir nicken, werfen uns dabei fragende Blicke zu. Sie schaut von einem zum anderen und bleibt schließlich bei dem Anführer hängen, von dem ich vermute, dass es ihr Mann ist. Die Art, wie sie eine Hand auf seine Schulter legt und langsam darüber streichelt, zeigt, dass sie sich körperlich nahe stehen und jedes Mal, wenn sie einen Blick teilen, liegt eine unglaubliche Zärtlichkeit in ihm.

„Ist das sonderbar?", fragt Thiemo neugierig, „Seid ihr eher erwacht?"

Wieder tauschen sie einen Blick aus, bis der Anführer sich in seinem Sitz aufrichtet und tief Luft holt. „Wir sind gar nicht aus ihr erwacht. Die Schwärze kennen wir nur aus vielen alten Erzählungen, einige neuere berichten zwar auch von ihr, allerdings gibt es keine Überlebenden mehr."

Die folgende Stille ist erdrückend. Voller Unglauben und Verständnislosigkeit. Ich sehe es in den Gesichtern der anderen. Sie verstehen nicht, was die Inselbewohner uns mitteilen wollen. Und wer es doch versteht, der kann es nicht glauben.

„Was mein Mann möchte uns sagen, ist dass wir kennen die Schwärze nur durch Erzählungen, weil Vorfahren erwacht sind aus ihr. Reisende manchmal uns berichten von ihr, aber sie nur an manchen Stellen der Erde noch ist und niemand dort überlegt, wenn sie geht weg. Entschuldigt meine Sprache, ich spreche gemeine Sprache nicht gut."

Thiemo schließt seinen Mund einige Male und öffnet ihn wieder, bevor er seine erfolglosen Versuche, etwas zu sagen, aufgibt.

„Was heißt hier Vorfahren? In welchem Jahr befinden wir uns denn?", fragt Lia forsch und irritiert zugleich. Seufzend steht der Anführer auf und schaut sie kurz an. „Unseren Informationen zufolge haben wir das Jahr 2974."

„WAS?", keucht Lia auf und auch mir fallen gefühlt fast die Augen aus dem Kopf. „Zw-zwei-zweitausendneun-zweitausendneunhundertvier-zweitausendneunhundertvierund-zweitausendneunhundertvierundsiebzig?", stottere ich. Kalter Schweiß rinnt meinen Nacken hinab und eine Gänsehaut breitet sich auf meinem Körper aus, als die Neuigkeit in mein Bewusstsein sickert.

„Es sollen fast eintausend Jahre vergangen sein?", denke ich. Panisch.

Auch Lia sieht völlig fertig aus. Ihr Körper zittert unaufhörlich und ihre Beine knicken leicht ein. Während ich noch darüber nachdenke, dass sie aussieht, als würde sie jeden Moment zusammenbrechen, schnellen Yaniks und Thiemos Arme in ihre Richtung und halten sie, bevor sie auf den Boden aufschlägt.

Ihr Gesicht ist aschfahl und blass und kalt. Ihre Augen blicken in die weite Ferne. „Lia? Lia!", rufe ich und trete an ihre Seite. Sie wird auf einen Stuhl verfrachtet, unter besorgten Blicken von uns dreien. Vorsichtig nehme ich ihre Hand in meine. Eiskalt und leblos liegt sie dort in meiner.

„Alles weg", flüstert sie. Zu einer Erwiderung öffne ich den Mund, doch kurz darauf schließe ich ihn wieder. „Was soll ich auch erwidern, wenn sie recht hat?", denke ich verzweifelt und sinke neben ihrem Stuhl auf die Knie, „es ist alles weg. Jeder ist weg."

Das Zittern, dass zuvor Lias Körper erfasst hatte, durchfährt nun auch mich und ich merke, wie sich in meinen Augenwinkeln Tränen bilden. Die Flüssigkeit sammelt sich mehr und mehr an, bevor sie langsam über den Rand tropfen und einen kleinen Strom über mein Gesicht bilden.

Ein Räuspern dringt aus von weit her zu mir durch und ich höre eine männliche Stimme: „Ich denke, wir brauchen ein wenig Zeit...und diese jungen Menschen hier ein wenig für sich." Die Stimme des Kapitän höre ich deutlich heraus. Sie ist als einzige so tief und kraftvoll und auch durch die Neuigkeit scheint sie nichts von ihrer Klangfarbe verloren zu haben.

Vorhänge rascheln und in dem Raum atmen nun weniger Menschen. Meinen Kopf vergrabe ich in Lias Beinen und schluchze los. Ich sollte sie trösten und nicht noch mehr vollheulen, doch keine Faser meines Körpers ist dazu in der Lage. „Sie müssen sich irren", sagt jemand und ich bemerke erst, dass ich es selbst gewesen sein muss, als alle mich anstarren. Selbst Lia ist aus ihrer Trance ein wenig erwacht. Die Tränen ignorierend schließe ich kurz meine Augen. „Mich würde nichts mehr wundern."

Ich öffne sie wieder und schaue zu Thiemo. Seine Stimme klingt so heiser und schwach, wie er aussieht, völlig in sich zusammengesunken und ohne das leichte Lächeln im Gesicht. Mein Blick fällt auf Yanik, der als einziger einen festen Ausdruck im Gesicht hat. Es scheint mir, als bemühe er sich uns ein Felsen zu sein, der den reißenden Strom der traurigen Erkenntnis unterbricht. Trotz der Müdigkeit in seinen Augen kann ich dort ein kleines Funkeln sehen, das von Sekunde zu Sekunde heller wird. Getrieben von wilder Entschlossenheit, gestärkt durch eine Eigenschaft, die ich nur als Optimismus bezeichnen kann. Für diesen Moment der Stärke und seine nächsten Worte bewundere ich ihn mehr als alles andere, denn niemand hätte bessere Worte für Lia finden können, die im Endeffekt doch an uns alle gerichtet waren.

„Es ist nicht alles verloren. Wir haben immer noch uns, Lia. Wir sind jetzt so etwas wie eine Familie."

Als ich im Jahr 2974 erwachteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt