Erzählung 71

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"Bitte. Bitte." Immer wieder murmelte ich die Worte vor mich hin. Ob sie an Petra gerichtet waren damit sie zurückkam oder an jemanden der diese Hölle hier enden lassen sollte war mir selbst nicht ganz klar. Vermutlich von beiden etwas. Das einzige was mir durch den Kopf ging war: Ich werde hier unten sterben. Warum sollte Eva mich auch noch leben lassen? Bestimmt hatte sie die Lust an uns verloren, da Chris und ich keine Regeln mehr brachen und sie uns nicht mehr so oft foltern konnte. Das ich ihm vorhin die Nase blutig geschlagen hatte erleichterte ihr die Entscheidung bestimmt. Langsam stützte ich meine beiden Hände links neben meinen Körper und knickte meine Arme dann ein, sodass ich Zentimeter für Zentimeter dem Boden näherkam und schließlich auf diesem lag. Dann zog ich die Beine an, umschlang sie mit meinen Armen und presste den Kopf gegen meine Brust, sodass ich ihn Embriostellung auf dem kühlen Metallgitter kauerte. Während ich mich hingelegt hatte waren nur mein flacher Atem und zwischenzeitliche leise Schluchzer zu hören gewesen. Das Knirschen meiner Zähne hörte sich an als würde jemand direkt neben mir über einen Kiesweg laufen. Meine Hände lösten sich von meinen Beinen und legten sich stattdessen auf meine Ohren. Ich wollte das alles nicht mehr hören. Würde ich sitzen wäre mein Oberkörper bestimmt vor- und zurückgewippt, doch so lag ich einfach nur zitternd da, darauf wartend, dass mich entweder Eva oder der Tod erlöste. In meinem Kopf spuckten Bilder herum, die mich noch lange verfolgen würden, falls ich das hier überstehen würde. Bilder von meiner Familie wie sie verfolgt und entführt, gefoltert und umgebracht wurden. Bilder wie ich als Kind abseits von allen anderen stand und ausgelacht wurde, weil ich auch nach der Grundschule Zaubern cool fand. Bilder von einer dunklen, toten Leere und wie ich in ihr herumirre und vergeblich meine Familie suche. Bilder wie ich durch eine zwielichtige Gasse laufe, dort auf einen Mann treffe und mich selbst vor Augen sehe. Mal als Penner, mal als offensichtlich Geisteskranken und mal als blutüberströmtem Mann mit einem langen Messer in der Hand und einem Leichenberg hinter sich. Und immerzu das schnelle Pochen meines Herzens im Hintergrund. Egal ob ich meine Augen aufriss oder mit aller Kraft zusammenkniff, egal wie fest ich meine Handballen auf sie drückte... Die Dunkelheit lag auf mir und schien mich zu erdrücken, während mein Hirn immer schrecklichere Dinge hervorbrachte. Ich zitterte und überlegte wie ich diesen Bildern in mir entkommen konnte, doch ich schaffte es nicht mich zu bewegen. Wie versteinert lag ich da und konnte mich nicht rühren. Es gab kein Entkommen. Wie soll man auch vor etwas davonlaufen, das in einem ist? Wie soll man sich davon erlösen, wenn man keine Möglichkeit hat seine Gedanken abzustellen? Egal ob durch kurzzeitige Ablenkung oder auch endgültig? Und genau das wollte ich. Keine Gedanken, keine Sorgen, keine Schmerzen und keine Qualen mehr. Ich wollte das es aufhört. Ich wollte den Druck der Dunkelheit nicht mehr spüren, die sich wie eine schwere Decke um mich legte. Alles an mir war so verkrampft, dass ich es nicht mal mehr schaffte zu wimmern. Ich lag nur da. Ein Außenstehender würde mich vermutlich für tot halten. Kein Finger zuckte. Ich blinzelte nicht einmal. Hatte ich die Augen überhaupt offen oder doch geschlossen? Lag ich überhaupt noch in dem Raum in Evas Keller? Lag ich überhaupt oder saß ich? Schwebte ich sogar? Atmete ich? Lebte ich? Ich wusste es nicht. Ich konnte nicht mehr denken: Ich sah nur die schrecklichen Bilder vor mir und wusste, dass das niemals passieren dürfte. Oder waren diese Dinge schon passiert? Alles was bisher in meinem Leben passiert war schien aus meinem Gedächtnis gestrichen worden zu sein. Was wenn ich in Wahrheit der blutüberströmte Mann war? Was wenn ich diese Familie durch die Dunkelheit gejagt und danach qualvoll getötet hatte? Aber wie passte das mit dem kleinen Jungen zusammen, der wegen der Zauberei gemobbt wurde? Alles vermischte sich zu einem großen Brei. „Mein Krieger", hauchte plötzlich eine Stimme in der Dunkelheit und mit einem Schlag war der Brei verschwunden. Nein. Ich war kein Mörder. Ich war ein Mann, der seine Familie liebte und der mit seinem Bruder seinen Traum lebte. Doch ich war auch der Mann, der seit gefühlten Tagen hier auf dem Boden lag, dem schreckliches wiederfahren war und dem noch schrecklichere Bilder durch den Kopf gingen. Ich war der Mann, der hier unten vermutlich sterben würde. Doch ich würde nicht zulassen, dass ich mich komplett vergaß. Das war ich Petra, den Kids und meiner ganzen Familie gegenüber schuldig. Ich schöpfte wieder etwas Hoffnung, doch kaum spürte ich sie machten mir meine Gedanken einen fetten Strich durch die Rechnung. Meine Familie war tot, meinen Bruder hasste ich und nach der Aktion mit seiner Nase er mich bestimmt auch. Ich war allein. Allein und bereit zu sterben. Ich atmete tief durch, entspannte meinen Körper so gut es ging und machte mich bereit diese Welt zu verlassen.

Ihr. Entkommt. Nicht!Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt