Er gibt mir mit schief gelegtem Kopf das Handy zurück. »Er ist hier? Was macht er hier?«
Marvin hat plötzlich einen Ausdruck in seinen Augen, welchen ich zuletzt vor einigen Monaten bei ihm sah. An dem Tag, als für mich das erste Mal meine kleine Welt zusammenbrach.
»Ich habe keine Ahnung. Ist mir auch egal. Ich werde nicht antworten. Es ist vorbei.« Ich grabe nochmals nach dem Schlüssel und öffne endlich die Tür.
Marvin zuckt mit den Schultern. »Nou, er fährt doch nicht einfach so knapp dreihundert Meilen nach South Carolina, um lediglich mal eben eine alte Freundin zu besuchen!«
Natürlich nicht, aber es interessiert mich mittlerweile herzlich wenig, was er tut oder nicht tut.
»Marvin, wir sehen uns morgen früh am Kaffeestand auf dem Campus, einverstanden?«, sage ich mit einem eindeutig erzwungenen Lächeln, um dieses elende Thema Josh nicht wieder aufkochen zu lassen. »Ja... «, murmelt er nur, fährt sich durch die blonde Mähne und verabschiedet sich dann wortlos.Nachdem ich den Schlüssel etwas zu schwungvoll an den Haken gehängt habe, mache ich dem drückenden Gefühl in mir Luft, in dem ich meine Schuhe durch den Flur schleudere und die Tasche neben mein Bett werfe.
Josh. Das hat mir gerade noch gefehlt. Ich bin noch immer emotional aufgewühlt, weil mein Vater so plötzlich aus meinem Leben gerissen wurde, ich ohne seine Unterstützung und Liebe ganz allein ein neues Kapitel in meinem Leben bewältigen muss und gerade so die Sache mit Josh hinter mir lassen konnte. Und jetzt ist dieser Idiot in der Stadt und meint, ich würde springen, sobald er pfeift!
Ich lasse mich aufs Bett fallen und schlage mit den Fäusten ein paar mal auf die Bettdecke ein, bis sich die Wut langsam auflöst und meine Augenlider schwer werden.Am nächsten Morgen wecken mich die frühen Sonnenstrahlen der Herbstsonne, noch bevor es mein Wecker mit seinen schrillen Tönen tut. Ich blicke müde an mir herunter und dann zur Uhr. Ich bin tatsächlich einfach eingeschlafen. Da es noch vor sieben Uhr ist, beschließe ich gleich zu duschen und mich fertig zu machen, um später nicht hetzen zu müssen.
Der Frost an der Fensterscheibe in meinem Zimmer verrät mir bereits die Antwort auf die Frage, ob es denn heute sehr kalt sein würde. Deshalb entscheide ich mich, nach dem morgendlichen Pflegeritual, für die schwarze, gefütterte Jeans, den dunkelroten Wollpulli, den Granny mir letztes Weihnachten gestrickt hat und der sich einfach umwerfend kuschelig anfühlt, und schnappe mir noch schnell Schal und Mütze.
Bevor ich losgehe, überprüfe ich noch kurz mein zusammengewürfeltes Erscheinungsbild und verziehe die Mundwinkel beim Anblick der dunklen Schatten unter den Augen der jungen Frau im Spiegel. Für Makeup fehlt mir jedoch die Lust, deshalb mache ich mich ohne welches auf den Weg zum Kaffeestand.Von weitem kann ich Marvin schon in der Schlange vor dem Stand entdecken. Mit seinem rotgelb gestreiften Schal und dem eleganten, langen Mantel sieht er aus wie ein Schüler aus Hogwarts. Dieser Gedanke lässt mich schmunzeln und hebt prompt meine Laune.
»Guten Morgen, Potter«, zieh ich ihn auf und dränge mich zwischen ihn und den Vordermann. »Hey Nou«, grinst er und zwickt mich in die Seite.
»Das ist ein wahnsinnig toller Schal, für den ich mich nicht zu schämen brauche!«, rechtfertigt er sich und streicht mit den Händen betont stolz über den Stoff. »Gut geschlafen hast du wohl nicht?«, fragt er und deutet auf mein Gesicht. »Ich gebe dir den Kaffee aus, dann beginnt dein Tag immerhin etwas angenehmer!«
»Was würde ich nur ohne dich tun!«, bedanke ich mich. »Aber du hast recht, ich bin in meinen Klamotten von gestern eingeschlafen. Gut schläft sich anders.«
Die kalte Luft zwängt sich durch die Fasern meines Pullis. Eine Jacke zum dicken Pullover schien mir übertrieben, aber jetzt bereue ich es, sie liegengelassen zu haben.
Die Schlange bewegt sich glücklicherweise recht zügig und nach ein paar Minuten genießen wir endlich den wunderbar heißen Kaffee.
Wir spazieren langsam über den Campus zu unserem Lehrgebäude und erinnern uns lachend an ein paar Gespräche in der Bar gestern. Plötzlich hält Marvin inne und tippt mir auf die Schulter. »Nou, hast du den Kerl da vorne bemerkt? Der starrt dich die ganze Zeit an, kennst du den?« Er nickt in die Richtung eines braungelockten Studenten, der an der Wand der Bibliothek gelehnt zu uns rüber sieht. Seine Hände stecken in der Jackentasche und um seinen Hals hängt eine Kamera. Moment, das ist doch der Typ aus dem Park!
»Ich bin ihm gestern im Park begegnet. Er hat hat ohne zu fragen ein Foto von mir gemacht und mich scheinbar schon öfter im Park beobachtet.« Marvin schaut schockiert zwischen dem Studenten und mir hin und her.
Stimmt, der Kerl hatte erwähnt, dass er studiert. Ich hätte mir eigentlich denken können, dass er vermutlich auf derselben Uni ist wie ich.
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If Love Was A Season
Teen FictionAnouk Evans ist fürs Studium nach North Carolina gezogen. Sie hat nur ihren besten Freund Marvin an ihrer Seite. Das kühle Verhältnis zwischen ihr und ihrer Mutter, der Verlust des geliebten Vaters und das gebrochene Herz machen der 19-jährigen sehr...