Beißer konnten nicht denken

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*Rose*


Ruinen. Soweit das Auge reicht, nur Ruinen. Bruchbuden. Fassaden, die Risse aufwiesen. Deutliche Spuren, dass sich niemand mehr drum kümmerte. Verlassene Häuser. Menschenleer. Unbewohnt. Ausgehaucht. Kein Leben mehr in ihnen. Sie erfüllen ihren Zweck nicht mehr. Bieten nur noch Schutz vor dem Wetter und den Beißern. Sie wurden geplündert und leergeräumt. Ein Zuhause sind sie schon lange nicht mehr. Für niemanden. Die Natur holte sich ihr Eigentum zurück.

Ich zog den Kragen meiner Daunenjacke höher, als mich eine eisige Windböe erfasste. Der Schneeregen, welcher vom Himmel fiel, hatte meine Sachen schon lange durchnässt. Mir war kalt, doch ich genoss auch die Ruhe. Das Gefühl, alleine zu sein. Und ich musste Ausschau halten. Nach ihnen. Ich wusste, sie leben noch. Ich wusste, eines Tages würde ich sie wiedersehen. Ich wusste, ich würde sie wieder in die Arme schließen können. Ich wusste es einfach. Und daran hielt ich fest. Darum musste ich Ausschau halten.

Wieder lief ein Beißer unten auf der menschenleeren Straße umher. Zog ziellos umher. Von hier oben sah er aus, wie eine Ameise. 20 Stockwerke hoch auf dem Dach eines Hochhauses. 20 Etagen über der Straße. Wenn man sich leise verhält, bemerken sie einen nicht. Es war nur einer. Ich schenkte ihm keine weitere Beachtung und widmete mich wieder den anderen Häusern. Haben dort Familien gewohnt? Glückliche Menschen? Vielleicht mit Kindern? Doch was spielte das noch für eine Rolle. Es war sehr unwahrscheinlich, dass auch nur einer von ihnen noch lebt. Dass er je zurückkehren würde. Menschen. Es gab nicht mehr sehr viele von ihnen. Und die wenigen, die es noch gab, hatten sich versteckt oder waren ständig unterwegs. In Bewegung. Auf der Flucht vor den Beißern. Auf der Suche nach Hilfe. Auf der Reise, in der Hoffnung auf ein besseres Leben.

Abermals fiel mir der Beißer ins Auge. Er benahm sich anders, als die anderen. Man könnte fast meinen, dass er etwas suchte. Doch das war natürlich völliger Blödsinn. Beißer konnten nicht denken. Beißer konnten nicht fühlen. Sie handelten einfach. Stets ihrem Verlangen folgend nach Nahrung suchend. Mensch oder Tier, Kind oder Greis war ihnen dabei völlig egal. Hauptsache blutiges Fleisch. Sie hatten Hunger. Waren unersättlich.

Ich lief eine Runde um das Dach herum, kontrollierte die Straßen dabei gewissenhaft. In der Ferne, aus dem Norden, kamen etliche Beißer angelaufen. Vermutlich eine Herde. Als der ganze Scheiß vor einigen Jahren ausgebrochen ist, hat man sie nur einzeln angetroffen, doch mittlerweile traf man immer öfter auf Herden. Ein Beißer schloss sich dem nächsten an. Folgte ihm einfach. Ein weiterer kommt dazu und dann noch einer. Bis sie zu hunderten durch die Landschaften zogen. Sich auf alles stürzten, was lebte.

Wenn man einmal in eine Herde hineingerät, ist es fast unmöglich, aus dieser zu entkommen. Sie sind nicht so schnell wie wir Menschen, aber sie sind hungrig. Unendlich hungrig. Das macht sie verdammt gefährlich. Gefährlich für jeden von uns. Viele habe ich sterben gesehen. Viele musste ich gehen lassen. Sehr viele, mir wichtige, Menschen habe ich seit dem Ausbruch nie wiedergesehen. Wer weiß, ob sie noch leben. Heutzutage trifft man nicht so einfach auf Überlebende. Und selbst, wenn. Man konnte sich nie sicher sein, ob sie gut oder böse waren. Menschen waren nach wie vor die gefährlichsten unter uns Lebewesen auf der Erde. Viel zu schnell wurde die Gefahr unterschätzt. Man begann einen Fehler. Einen Fehler, der dich dein Leben kosten kann. Einen Fehler, der das Leben der Menschen kosten kann, die du liebst.

Nachdem ich meine Runde auf dem Dach beendet hatte, setzte ich mich wieder auf meinen Lieblingsplatz an der Dachkante. Eine falsche Bewegung und ich würde fallen. Tief fallen. Doch Angst machte mir dieser Gedanke nicht. Die Angst vor dem Leben war viel größer. Doch ich war niemand, der einfach so aufgab. Ich wollte Leben. Auch wenn ich noch nicht so genau rausgefunden hatte, wofür.

Meine Gruppe war auf Besorgungstour. Seit ein paar Tagen waren sie schon weg. Doch das störte mich nicht. Ich genoss die Ruhe hier. Ich war sicher in dem Haus. Die Türen und die Fenster unten waren sehr gut verbarrikadiert. Dort würde niemand so schnell hineinkommen, der nicht hineinsollte. Essen und Wasser hatte ich für einige Wochen hier. Waffen und Munition hatte ich auch mehr als genug. Ich müsste das Haus nicht mal verlassen. Wir hatten uns zwei Wohnungen in der 20 Etage eingerichtet. Die wenigen Fenster hatten wir mit dicken, schwarzen Decken abgedunkelt. Es drang kein Licht nach draußen und wir waren hoch genug, dass wir nicht ganz so streng darauf achten mussten, leise zu sein. Es war sicher. Ich war hier in Sicherheit. Waren schon seit einigen Wochen hier. Wollten den Winter abwarten und dann weiterziehen. Wohin wussten wir noch nicht genau. Falsch. Meine Gruppe wusste noch nicht genau, wohin. Ich ja. Ich wusste genau, wo ich hinwollte. Doch das wussten sie noch nicht.

Ich beschloss, nach drinnen zu gehen, um mir trockene Sachen anzuziehen und mich etwas aufzuwärmen. Es war heute wiederholt verdammt kalt und der Schneeregen nahm immer mehr zu. Es würde sicher Glatteis geben. Nur gut, dass ich nicht das Haus verlassen musste. Wobei es aber auch auf dem Dach ganz schön glatt werden konnte. Ich kletterte geschickt von der Kante hinunter und ging durch die Eisentür hinein. Die eine Treppe runter, zu eine unserer Wohnungen. Wir waren eine Gruppe von neun Personen. Sieben Männer und zwei Frauen. Mich eingeschlossen. Und ich hatte keine Lust, mit den Männern zusammen zu wohnen. Sie waren mir teilweise etwas suspekt, aber in einer Gruppe war das Überleben leichter.

Ich öffnete die Haustür und ließ sie leise hinter mir ins Schloss fallen. Das Scharfschützengewehr stellte ich neben der Tür ab, als mich ein Geräusch aufhorchen ließ. Das kam eindeutig von draußen. Laut genug, dass ich es durch die geschlossenen Fenster bis hier oben hören konnte. Ich nahm das Gewehr wieder in die Hand und stellte mich neben das Fenster. Zog vorsichtig die Decke beiseite und spähte hinaus. Der Beißer war immer noch da. Es schien, als würde er sich zwischen den Autos verstecken. Doch zu so etwas waren Beißer nicht in der Lage. Vielleicht steckte er ja fest?

Mein Blick fiel nach links die Straße hinunter. In den Norden und es war tatsächlich eine Herde, die in meine Richtung kam. Doch das machte mir keine Angst. Sie würden mich nicht bekommen. Ich sah mir den Beißer zwischen den Autos genauer an. Nahm mein Fernglas zur Hilfe und schaute hindurch. Er benahm sich wirklich merkwürdig. Versuchte er gerade unter das Auto zu krabbeln? Ich konnte an seinem Bein einen Waffengurt erkennen. In seiner rechten Hand glänzte etwas Silbernes. Hatte er ein Messer in der Hand? Für einen kurzen Augenblick konnte ich ein Teil von seinem Gesicht erkennen. Moment. Das war kein Beißer. Das war ein Mensch. Ein Überlebender. Der Herde konnte er nicht mehr ausweichen. Dafür war es zu spät. Viel zu spät. Sie waren nur noch wenige hunderte Meter entfernt und kamen mit jedem Schritt näher. Konnte ich es riskieren? Sollte ich es riskieren? Was für eine Frage. Ich musste es riskieren!

Ich warf mir mein Gewehr über die Schulter, schnappte mir meine Waffe und rannte hinauf auf das Dach. Direkt auf die Feuerleiter zu. So schnell mich meine Beine trugen und gleichzeitig so leise, wie nur möglich, rannte ich diese herunter. Versuchte den Mann im Auge zu behalten. Versuchte, die Herde nicht auf mich aufmerksam zu machen. 20 Etagen eine durch den Schneematsch rutschige Eisentreppe herunter zu rennen. Was für ein Selbstmordkommando. Doch es war meine Pflicht, ihm zu helfen. Ja, die Menschen waren heutzutage teilweise noch größere Arschlöcher als früher, doch nicht alle sind so. Man sollte seine Menschlichkeit nie verlieren. Man musste helfen, wenn man konnte. Wozu sonst hatten wir ein Gehirn und Herz? Was unterschied uns sonst von den Beißern, wenn nicht genau das?

Die Herde kam näher und näher. Ich war zu langsam, schoss es mir durch den Kopf. Das würde ich niemals rechtzeitig schaffen. Immer zwei Stufen gleichzeitig sprang ich hinunter. Meine Lunge brannte. Schrie nach Luft, doch keine Zeit für eine Pause. Hier ging es um ein Menschenleben. Und ich würde alles versuchen, um ihn zu retten. Keuchend kam ich am Ende der Feuertreppe an. Nur noch wenige Meter trennten die Herde von dem Auto und dem darunterliegenden Mann.

Komm mit! (Carl Grimes, The walking dead FF)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt