Die Geschichte beginnt in einer märchenhaften, abgelegenen Landschaft. Zarte, pastellfarbene Frühlinge, warme, leidenschaftliche Sommer, kühle, erhabene Herbste und weiße, lange Winter. Und klare Vollmondnächte. In dieser Landschaft gibt es sowohl Felder und Wiesen, als auch Berge und Seen, Wälder und Täler. Es gibt viel Wild zu jagen, die Ernte ist immer gut dank des fruchtbaren Bodens. Das kleine Dorf, das in dieser traumhaften Landschaft liegt, hat nichts zu bemängeln. Warum also sind die Einwohner so ängstlich, verstört, entsetzt und fliehen, einer nach dem anderen?
„Rotkäppchen?" Rotkäppchen saß in einer Wiese, sah einigen Kaninchen beim fressen zu und spielte gedankenverloren mit ihrem dunkelbraunem, schon fast schwarzem Haar, als ihre Mutter sie rief. „Ja, Mutter?" Ihre Mutter ging zu ihr, setzte sich neben sie und strich ihr eine Strähne aus dem Gesicht. Aus dem so wunderschönen, zarten Gesicht ihrer Tochter, das gerötete Wangen hat te und Augen, die von einem Tier hätten sein können. Von der Farbe her fast wie die eines Rehs. „Das sind schöne bunte Blumen dort drüben" sagte sie. Rotkäppchen nickte. „Wie wäre es, wenn du ein paar von ihnen pflückst und sie deiner lieben Großmutter bringst? Du warst schon so lange nicht mehr bei ihr. Du musst dich doch auch mal bedanken, für die schönen roten Kleider die sie für dich zum Geburtstag gemacht hat." Rotkäppchen schloss die Augen, versuchte sich nicht anmerken zu lassen wie sehr sie den Gedanken, ihre Großmutter zu besuchen, verabscheute. Ihre Mutter seufzte genervt. „Mutter, sie... Sie ist so..." „Ich will davon nichts mehr hören!" sagte diese gereizt. Rotkäppchen schluckte nervös. „Sie ist verrückt, Mutter! Sie ist krank, sie hat irgendwas, sie ist nicht norm-„ „HALT! Pass auf was du da sagst, Rotkäppchen! Deine Großmutter ist eine alte, gebrechliche Frau, aber sie ist gewiss nicht krank! Ich will deine Hirngespinste nicht mehr hören!" Ihre Tochter sah sie wütend an, traute sich aber nicht ihrer Mutter zu widersprechen. „Morgen Nachmittag sammelst du ein paar Blumen für sie und holst dir einen Korb mit Geschenken für sie ab. Du machst dir eine schöne Frisur, und dann wirst du zu ihr gehen, hast du mich verstanden Rotkäppchen?" sie nickte. „Ob du mich verstanden hast?" „Ja, Mutter, ich habe verstanden." Sagte sie leise. Ihre Mutter funkelte sie an, bevor sie zurück zu ihrem Haus ging um ihre Gartenarbeit fortzusetzen. „Sie spinnt, sie spinnt, sie spinnt... Alle beide spinnen" murmelte das Mädchen frustriert vor sich hin. Sie war sich vollkommen sicher, dass irgendetwas mit ihrer Großmutter nicht stimmte. Sie erzählte seltsame Sachen. Sie benahm sich seltsam. Und das seltsamste war, das sie sich vor dem Dorf fürchtete. „Die Leute im Dorf sind böse, halte dich fern von ihnen" hatte sie mal gesagt. Verwirrt schüttelte das Mädchen den Kopf.
„Rotkäppchen! Rotkäppchen!" Rotkäppchen drehte sich in die Richtung, aus der die ihr so bekannte Stimme kam. „Hallo!" ihre Freundin Isabella, die einige Häuser weiter wohnte, kam zu ihr gelaufen. „Hallo Isabella, schön dich zu sehen!" Rotkäppchen strahlte sie freudig an. „Oh, was hast du denn da dabei?" neugierig schielte sie auf das dicke, moosgrüne Buch das ihre Freundin in den Händen hielt. „Ach, das..." Isabella sah betroffen zur Seite. „Hm? Zeig doch her!" Rotkäppchen griff danach, aber Isabella zog es weg. „Das ist nur ein Buch, das deine Mutter sich von meiner geliehen hat. Ich sollte es schnell zurückbringen." „Ja und welches Buch? Warum darf ich es denn nicht sehen?" Enttäuscht sah das brünette Mädchen sie an. „Es ist ein Buch über Wölfe, und wie man sich vor ihnen verteidigen kann, und was man tun soll wenn man auf einen trifft." Seufzte Isabella. „Wölfe? Wieso das denn?" Verdutzt zog Rotkäppchen eine Augenbraue hoch. „Hast du es denn gar nicht mitbekommen? Hm... Naja, gut, ihr wohnt so abseits..." „Isabella, nun sag schon!" Rotkäppchen hielt ihre Neugier kaum noch aus. „Also gut. Seit einigen Wochen, oder auch... Monaten, sollen Leute aus unserem Dorf verschwunden sein. Manche werden noch immer vermisst, und andere..." in Isabellas Blick mischte sich Angst. „Und was...?" „Andere wurden tot aufgefunden... Zerfleischt... Auseinandergerissen... Zerkratzt... und blutig..." Rotkäppchen starrte entsetzt ihre Freundin an. „Was?! Und... und du glaubst... das ist ein Wolf?" „Nicht nur ich" sagte Isabella. „Das ganze Dorf meint mittlerweile schon, ein Wolf treibt in manchen Nächten sein Unwesen bei uns, und überfällt einen unschuldigen nach den anderen. Aber nicht weil er Hunger hat, da könnte er auch die Tiere aus dem Wald reißen. Es heißt... Er hat Lust am morden gefunden... Er hat Spaß daran, die Menschen zu quälen..." „Oh nein... Das darf doch nicht wahr sein! Was soll man denn machen wenn man ihm begegnet?" „In dem Buch steht, das man am besten gar nicht mehr alleine raus gehen sollte, vor allem wenn man ein Kind ist. Auf keinen Fall in Wälder oder Höhlen gehen, in denen er hausen könnte, und falls man ihn wirklich mal treffen sollte, muss man ruhig bleiben und beten das er wieder geht. Läufst du los, weckt das seinen Jagdinstinkt und er verfolgt dich erst recht... als Beute." Mit großen Augen starrte Rotkäppchen ihre Freundin an. Sie hatte schon viel aus Geschichten gelernt, von gefährlichen Tieren, aber noch nie war sie selbst in so eine Situation geraten. „Oh nein, es ist ja gleich Sonnenuntergang!" rief Isabella entsetzt. „Mist, ich muss schnell nach Hause, sonst bekomme ich Ärger. Kannst du das Buch deiner Mutter wiedergeben?" „Natürlich, keine Sorge. Bitte... pass auf auf dich" sagte Rotkäppchen. Ihre Freundin nickte. „Du auch." Rotkäppchen sah ihr hinterher. Isabellas mittelange, blonde Locken wippten auf und ab, als diese zurück ins Dorf rannte. Zusammen mit ihrer himmelblauen Schleife, die sie immer zu ihren ebenso blauen Kleidern trug.
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Rotkäppchen
Short StoryEinen wunderschönen guten Abend wünsche ich! Pünktlich zu Halloween dachte ich mir, 'lass doch mal n paar Horror-Storys schreiben (das ist nämlich das einzige was ich kann). Joah, und spontan fiel mir dann ein (oder auch aus Ideenlosigkeit...), das...