1. Kerze

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Mit einem leeren Blick starrte ich aus dem Fenster der psychiatrischen Klinik. Mein Zimmer war abgedunkelt, ausgedünnte Wellen meines schwarzen Haares fielen glanzlos über meine Schultern.

Mit jedem Blinzeln sah ich sie, immer wenn mein Umfeld von Stille beherrscht wurde, hörte ich sie. Ihre brennenden Blicke, die verachtenden Rufe, die sie mir lachend entgegengeschleudert haben.

Es war wie eine Flut an Hass, die mich immer wieder überschwemmt und an den Ort gebracht hatte, an dem niemand enden wollte.

Die Wolken zogen grau am Himmel entlang, während ich nichts dachte, nichts fühlte. Aus weiter Ferne hörte ich, wie an eine Tür angeklopft wurde, doch ich wollte das Geräusch nicht bis zu mir durchdringen lassen.

Langsam kehrte ich ungewollt in die Realität zurück, doch ich nahm nur das grelle, unnatürliche Licht der Leuchtstoffröhren wahr, das durch den Türspalt schien, nachdem die Betreuerin die Tür geöffnet hatte.

Wie sehr ich dieses Licht hasste. Ich konnte mich an nicht viel erinnern, mein Gedächtnis war wie leer gefegt. Doch die Erinnerung an die Röhren war erhalten geblieben, ebenso wie die an Tom.

„Feliz", hörte ich die Frau meinen Namen sagen.

Ich starrte nur weiterhin mit meinen hellgrauen Augen vor mich hin, während mein Name sich immer wieder in meinem Kopf wiederholte.

Feliz...

Als ich jünger war, hatte man mir gesagt, dass er glücklich bedeutete. Ein Name, den man Kindern gab, um ihnen eine erfüllte Zukunft vorauszusagen. Was für eine Ironie, dass ich hier geendet war.

„Wir können dir helfen", hörte ich die Stimme der diensthabenden Betreuerin aus weiter Ferne sprechen. Sie hatte keine Ahnung...
Niemand konnte mir helfen.

Ich war früh in ein Heim gekommen, an meine leiblichen Eltern konnte ich mich nicht erinnern. Doch dort war ich nicht zurechtgekommen. Es gab Probleme mit den anderen Kindern. Ich wurde nicht von ihnen akzeptiert oder blieb in der Angst, beim Spielen ausgeschlossen zu werden, in meinem Zimmer. In der letzten Einrichtung, in der ich gewohnt hatte, habe ich Tom kennengelernt.

Anfangs war ich ähnlich misstrauisch wie bei den anderen Kindern, doch er blieb hartnäckig und besuchte mich jeden Tag auf meinem Zimmer, bis ich mich ihm irgendwann öffnete und er zu dem einzigen Freund wurde, den ich jemals gehabt hatte.

„Feliz, bitte", hörte ich nun die Stimme, die sich immer weiter zu entfernen schien.

Ich beachtete sie kaum. In meinen Augen sammelten sich Tränen bei dem Gedanken an Tom. Ich wusste nicht, wie es ihm ging oder wo er sich befand. Ich konnte mich nur noch daran erinnern, dass wir in den letzten Monaten, die ich im Heim verbracht hatte, zu geschwisterähnlichen Freunden geworden waren. Er war wie mein Bruder, tröstete mich, wenn ich weinte, lachte über die unlustigsten Sachen, die ich sagte.

Seine Schreie in den Minuten, in denen sie mich in das Auto gezogen hatten, haben sich in mein Gedächtnis eingegraben.

In den ersten Wochen in der Klinik hatte ich immer wieder mit den Betreuern gesprochen, um ihn wenigstens einmal anrufen zu können. Doch sie verneinten meine Bitte immer. Nach einigen Wochen, in denen ich stetig versuchte, eine Möglichkeit zu finden, mit Tom Kontakt aufzunehmen, besuchte mich eine der Betreuerinnen in meinem Zimmer. Es war das letzte Mal, dass ich mit einer von ihnen geredet habe. Sie hat mir erklärt, dass das Heim, in dem ich zuletzt gewohnt hatte, Tom abgegeben hatte. Er war ohne mich durchgedreht, sie konnten ihn nicht mehr kontrollieren.

Ich schrie sie an, schrie mich selbst an und die ganze Welt.

In diesem Moment zersplitterte mein Inneres in noch mehr Einzelteile als zuvor. Einzelteile, die niemand wieder zusammenfügen konnte.

Doch danach war alles verschwunden, so als würde ich nun nicht seit bereits einem Jahr fast jeden Tag an diesem verschmutzten Fenster stehen und mit meinen hellgrauen Augen auf die Außenwelt starren.

Ich bekam nicht mehr mit, wie die Frau die Tür seufzend wieder schloss und das grelle Licht der Station in meinem Zimmer von der allgegenwärtigen Dunkelheit abgelöst wurde.

Schon oft hatte ich mir Gedanken darüber gemacht, wie ich mir mein Seelenleben vorstellen sollte.

Vor ein paar Tagen war ich zu dem Schluss gekommen, dass von all den Möglichkeiten, die ich durchgegangen war, die Theorie mit den Kerzen am nächsten lag.

In meinem Kopf erschien das Bild der fünf schwarzen Kerzen, die in einem völlig abgedunkelten Raum standen, das einzige Licht in der hoffnungslosen Schwärze meiner Seele. Und doch erloschen sie nach und nach, bis die letzte Kerzenflamme versiegen würde.

Ich wusste es zu diesem Zeitpunkt bereits.

Dass ich sterben würde.

Und die erste Kerze war bereits erloschen, dem ganzen Spott, der Ausgeschlossenheit, den brennenden Blicken zur Folge.

ZersplittertWo Geschichten leben. Entdecke jetzt