3. Kerze

85 23 14
                                    

Mit einem müden Blick beobachtete ich den Wassertropfen, der an dem Spiegel herabrann und seine Spur auf dem teilweise zersplitterten Glas hinterließ.

Ich konnte mir selbst nicht erklären, warum ich die einzige Dusche mit einem Spiegel gewählt hatte. Schon seit einigen Monaten hatte ich mein Spiegelbild nicht mehr betrachtet. Ich wollte es einfach nicht. Ich wollte das, was von mir übrig war, nicht sehen, hatte sogar den Spiegel in meinem Zimmer abgehangen.

Mein Blick glitt über meine blasse Haut, die Knochen, die deutlich hervorstachen, besonders am Brustkorb. Mein eingefallener Bauch, die glanzlosen, nassen Haare und meine Augen, die dabei waren, jeden Hoffnungsschimmer zu verlieren, ließen mein Erscheinungsbild erbärmlich wirken. Die schwarzen Augenringe traten deutlich hervor, meine Haut hatte eine blasse Grautönung angenommen.

Ich konnte es nicht mehr, konnte nicht mehr schlafen, geschweige denn etwas essen. Ich war dabei, alle Hoffnungen aufzugeben, mich gehen zu lassen. Wohin ich gehen würde, wusste ich nicht.

Wie war das mit dem Tod?

Lebte man in einer anderen Form weiter, die jedoch nicht von anderen Menschen wahrgenommen werden konnte?

War auf einmal einfach alles schwarz?

Fühlte man noch etwas?

Mit dieser Frage hatte ich mich in den vergangenen Tagen oft auseinandergesetzt. Und auch wenn die Therapeuten mir jedes Mal ins Gewissen redeten, ich solle mich öffnen und mit ihnen über das reden, was mich beschäftigte, tat ich es nicht. Ich hatte niemandem von meinen Gedanken berichtet, hielt es für das Beste.

Und doch hatte ich die Frau hinter dem Schreibtisch im Therapiezimmer um eine Sache bitten müssen.

Ich hatte ihr von Tom erzählt, ihr seinen vollständigen Namen und seinen früheren Aufenthaltsort genannt, in der Hoffnung, sie könnte seinen Standort herausfinden.

Ob ich jedoch in diesem Fall die Kraft finden würde, geschweige denn die Erlaubnis der Klinik, den Weg zu ihm anzutreten, wusste ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht.

Wieder erinnerte ich mich an die etlichen Essensrationen, die bei jedem Kilogramm, das ich abnahm, größer wurden. Ich erinnerte mich an meine Schreibtischschublade und das Loch vor meinem Fenster, in die ich sämtliche Nahrung in den letzten zwei Wochen entsorgt hatte. Jedes Mal, wenn ich mich dazu aufraffen konnte, eine der Sitzungen zu besuchen, sagten mir die Ärzte, dass ich untergewichtig sei. Sie versuchten, mir in mein Gewissen zu reden, doch ich ließ die Worte immer von mir abperlen. Sie nannten mir die Folgen, die mein krankhaftes Abnehmen hinter sich herziehen konnte.

Brüchige Fingernägel, Blassheit, Haarausfall, Kraftlosigkeit, Unfruchtbarkeit.

Doch ich konnte es nicht von selbst beenden, war bereits zu sehr geschwächt worden. Mir fehlte die Kraft, die Energie, der Lebenswille.

Ich war so sehr in meinen Gedanken versunken, dass ich kaum noch das verschwommene Bild vor meinen Augen erkennen konnte. Das Bild meines abgemagerten Körpers, über den gleichmäßig das warme Wasser der Dusche rann.

Ich schloss die zitternden Augenlider, als ich von einer Welle der Erinnerung erfasst wurde. Vor dem Inneren meiner Augen tauchte das Bild des Jungen auf, der so viel bewirkt hatte. Er war einer der Hauptgründe, mit ihm hatte es begonnen. Ich konnte mich von einem Moment auf den anderen wieder an alles erinnern. Augenblicke, die ich längst glaubte, vergessen zu haben, kamen mir wieder in mein Gedächtnis.

Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn sie in meiner kleinen Bibliothek der vergessenen Momente geblieben wären. Doch das Buch war ganz unerwartet aus dem Regal gefallen und ließ mich bei dem Aufschlag auf den Boden zusammenzucken. Eine der Seiten blätterte sich wie von selbst auf, die Seite, auf der die Zermürbung ihren Anfang genommen hatte.

Seine scharfen, kantigen Gesichtszüge, die kurzen rostfarbenen Haare, der muskulöse Körperbau und die dunkelbraunen Augen ließen ihn einschüchternd auf mich wirken.

Mike.

Er war der Mensch gewesen, der mir den Stempel der Ausgeschlossenheit auf die Stirn gesetzt hatte.

Als ich in das erste Heim kam, war er dort seit mehreren Jahren zugange. Aus mir unbekannten Gründen wollte jedes Kind mit ihm befreundet sein, so auch ich, obwohl zwischen uns mehr als zehn Jahre Unterschied lagen. Er war der älteste Junge, womit er sich einen gewissen Respekt unter den anderen Kindern erarbeitet hatte. Als ich neu in die Gruppe kam, verbrachte er viel Zeit mit mir, spielte mit mir meine Lieblingsspiele, ging mit mir spazieren und ließ mich nicht zuletzt beachtenswert vor den anderen dastehen.
Doch irgendwann kam der Tag, an dem sich alles verändern sollte. Plötzlich redete er nicht mehr mit mir, die anderen begannen, unauffällig hinter meinem Rücken zu tuscheln und dumme Bemerkungen zu machen. Ich verstand die Welt nicht mehr, fragte meine Betreuer, was passiert sei, doch sie konnten mir nicht antworten. Niemand konnte das.

Dennoch hatte dieses Ereignis, dieser Mensch mein Leben geprägt. Ich fühlte mich verraten, konnte den Menschen nicht mehr in die Augen schauen.

Schließlich wurde ich in ein anderes Heim abgegeben, doch der Zustand verschlechterte sich nur, da ich mich von nun an niemandem mehr anvertraute.

Ich musste stark blinzeln, um näherungsweise zurück in die Realität zu gelangen. Das Wasser hatte sich bereits von selbst ausgestellt, doch ich starrte noch immer in den gerissenen Spiegel vor mir.

Gerissen wie meine Seele.

Und in diesem Moment wurde mir bewusst, dass die dritte Kerze dabei war, zu erlöschen, in Gedenken an den Menschen, mit dem alles begonnen hatte. Mike.

ZersplittertWo Geschichten leben. Entdecke jetzt