4. Kerze

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Meine Hände zitterten, als sie den Zettel erfassten, der auf meinem Nachttischchen lag.

Ich hatte mich schlafend gestellt, als die Frau ihn hereingebracht und seufzend auf meinen Tisch, in dem ich das verdorbene Essen der letzten Wochen aufbewahrte, gelegt hatte.

Was meine müden Augen erfassten, konnte ich selbst kaum glauben. Das Zittern meiner Hände wurde stärker, als ich den Umschlag und die Schreibpapierbögen erblickte, die die Frau auf meinem Schreibtisch abgelegt hatte. Auf dem Zettel stand der vollständige Name von Tom und eine leserlich geschriebene Adresse.

Sie gestatteten mir, einen Brief zu schreiben. Ich konnte mich nicht bewegen, starrte nur weiterhin abwechselnd auf die Adresse und das Papier.

Langsam sank ich auf die Knie. Ich war dabei, aufzugeben, in einem stillen Gewässer zu ertrinken und nichts konnte mich wieder an die Oberfläche ziehen. Doch nun hielt ich den Zettel in der Hand, wusste nicht, was ich sagen, geschweige denn denken sollte.

Meine Gefühle überschlugen sich, ich spürte, wie ein kleiner Funken Freude in mir aufklomm, wie ich ihn mehrere Jahre lang nicht mehr verspürt hatte. Ich konnte einen Abschiedsbrief schreiben, hatte die Möglichkeit, dem einzigen Menschen, der mir noch etwas bedeutete, leb wohl zu sagen.

Eine Träne floss meine Wange hinunter und tropfte dann von meinem Kinn auf meine Oberschenkel. Meine Hände hielten, noch immer zitternd, den Zettel fest, der mir noch einmal erlaubte, Kontakt zu einem geliebten Menschen aufzunehmen.

Meine brennenden Augen glitten über meine Unterarme, die mit rosanen Narben und tiefen Schnitten übersäht waren.

Wie von selbst raffte ich mich wieder auf und ging mit langsamen, unsicheren Schritten auf meinen Schreibtisch zu. Die eine Hand umklammerte noch immer das Stück Papier, die andere griff vorsichtig nach dem Stuhl, der unbewegt vor dem Tisch stand. Als ich ihn zurückzog, hörte ich das Kratzen des Holzes auf dem Linoleumboden, das mir eine Gänsehaut über den zernarbten und abgemagerten Körper jagte. Kraftlos ließ ich mich auf den Stuhl sinken, meine Haut erschauderte bei der Berührung mit dem kalten Holz.

Meine Haare hingen matt über das Papier, das ich mit zittrigen Händen vor mir hinlegte. Langsam nahm ich meinen Füller, das raue Knarzen beim Aufdrehen tat mir beinahe in den Ohren weh. Ich nahm das Schreibgerät zwischen die ersten drei Finger und setzte die Spitze auf das Papier.

Mit einer schwungvollen Bewegung schrieb ich das erste Wort, diesem folgten wie in einem Fluss weitere, die Tränen flossen unaufhörlich über meine Wangen. Mein Brustkorb hob und senkte sich schmerzhaft, während ich in meiner makellosen Handschrift die Wörter auf das Papier schrieb, mir alles von der Seele schrieb, das sich über die Jahre angestaut hatte. Ich wusste, dass ich ihm vertrauen konnte, dass er meine letzte Bitte erfüllen würde.

Immer wieder glitten meine Augen auf die tiefen Wunden an meinen Armen, die sich kaum geschlossen hatten. Ich war dabei, aufzugeben. Es hatte keinen Sinn mehr. Selbst wenn ich aus der Psychiatrie entlassen werden würde, wer würde dort auf mich warten? Meine Eltern? Die Geschwister, die ich nie kennenlernen durfte? Mike und seine Gruppe an Menschen, die ihn bewunderten?

All das widerte mich nur noch an. Und zu diesem Zeitpunkt wurde es mir mehr denn je bewusst. Ich würde sterben. Noch heute, wenn es mir möglich war. Der Tod würde mich mit offenen Armen empfangen, mich wie einen alten Freund begrüßen und mich mit sich nehmen. Von mir würde nichts übrig bleiben, nicht einmal Erinnerungen. Höchstens eine Akte im Krankenhaus, auf der in großen roten Buchstaben das Wort Suizid  stand.

Ich schloss einmal die Augen, bevor ich das letzte Wort auf das Papier setzte, den Stift zuschraubte und den Brief in den Umschlag steckte.

Und die vierte Kerze, der Lebenssinn, erlosch.

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