Eins

1.6K 120 9
                                    

Ich fühlte mich gefangen in einem Déjà-vu. Gleicher Gang, gleiche Türen, gleiches Zimmer vor dem ich zum Stehen kam.
Doch dieses Mal musste ich meinen Mitbewohner nicht kennenlernen, ich kannte ihn bereits seit einem Jahr.
„Hey Rewi",begrüßte mich Patrick als ich mich auf das Bett setzte, dass nun ein zweites Mal meins war. Ich fand keine Worte, obwohl sie so einfach waren. Ich wollte auch gar nicht sprechen.
„Möchtest du mit zu den anderen kommen?"
Ich schüttelte den Kopf und blickte auf den gefliesten Boden. Bei jedem Blinzeln, saß er da. Mit der Schere in der rechten Hand, mit dem ausdruckslosen Blick.
„Sorry." Es hallte in meinen Ohren.
Ich schloss meine Augen und öffnete sie erst wieder, als ich mir sicher war ihn nicht mehr vor mir sehen zu können. Ich wollte zurück in die Geschlossene, ich wollte starke Medikamente, die diese Erinnerungen unterdrücken.
Mein Blick fuhr durch den leeren Raum, den Patrick wohl verlassen hatte. Ich wollte ja mit zu den anderen, ich wollte nicht alleine hier sitzen, aber gleichzeitig fühlte es sich so falsch an irgendwas zu wollen.
Es war für mich immer noch absurd, dass er nicht hier war. Er lag Meter unter der Erde und ich konnte nichts dagegen machen - wie könnte ich dann überhaupt noch irgendwas machen?
Mein Kopf konnte noch immer nicht begreifen, dass unser letzter Kuss nicht an einem Morgen, den ich neben ihm begonnen hatte, war - sondern auf dem Dach.
Mein Kopf verstand nicht, dass es sechs Monate her war und nicht eine Woche.
Sechs Monate und trotzdem spürte ich seine Lippen noch auf meinen.
Und ich hasste es.
Ich wollte in Tränen ausbrechen, weil es so schmerzte sich an ihn zu erinnern.
Allein die Tatsache dass ich mich erinnern musste, brannte schlimmer als tausend Feuer.
Ich wollte mich nicht erinnern, ich wollte ihn hier haben. Ich wollte täglich mehr Dinge mit ihm erleben, an die ich zurück denken könnte, wenn wir einmal alt wären.
Ich wollte zurück. Ich wollte zurück in diese Nacht. Ich wollte ihn retten, ihm sagen das alles gut wird. Ich wollte ihm sagen wie sehr ich ihn liebe.
Aber es ging nicht mehr.
Ich wollte ihn zurück.
Seine Augen, seine Haare, seine Lippen.
Aber er existiert nicht mehr in der selben Welt wie ich und ich frage mich, wie das sein kann.
Und es musste ein Jahr her sein, dass ich ihm kennengelernt hatte. Vor einem Jahr hatte er sich zu spät an den Tisch gesetzt und ein mehr oder weniger interessiertes „Hey", in meine Richtung gelächelt.

Die Tränen rannen wieder ununterbrochen über mein Gesicht und ich machte mir nicht die Mühe eine einzige wegzuwischen. Zu viel ging mir durch den Kopf. Zu viele Dinge fielen mir ein. Er hatte sich nie von Alex verabschiedet, er hatte seine letzte Woche so tief traurig verbracht, er hatte mich in dieser Nacht doch noch geweckt. Wäre ich nur wach geblieben. Wäre ich nur Minuten länger wach geblieben. Wie konnte ich bloß einschlafen? Wie konnte ich bloß den Raum verlassen? Wie konnte ich ihn bloß sterben lassen?
Wie konnte er mich allein lassen?

Meine Stimmung war tot. Und ich wollte die anderen anschreien, als sie das Zimmer betraten. Wie konnten sie reden? Wie konnten sie lachen?
Felix ist tot.
„Gut das du wieder draußen bist",sagte Manu und setzte sich auf den gefliesten Boden. „Zombey ist ziemlich anstrengend, er traut sich nichtmal vor mir zu essen."
Er schmunzelte.
Ich konnte ihn nicht anschreien. Er wollte mich irgendwie aufheitern, aber ich wollte es nicht. Ich wollte nie wieder glücklich sein, das wäre falsch.
Sie warfen sich vielsagende Blicke zu.
„Willst du darüber reden?",fragte Patrick.
„Es gibt nicht viel zu sagen",antwortete ich nach einer kurzen Stille.
„Aber dir geht es nicht gut."
„Wie kann es euch gut gehen?"
„Es geht uns nicht gut. Wir kannten Felix auch zwei Jahre. Und er ist nicht der erste den wir hier verlieren. Petrit, Freddie, Ardy -",begann Taddl, doch Patrick unterbrach ihn. „Taddl, nicht. Es ist etwas anderes bei ihm."
Ich wollte nicht atmen. Ich wollte sie anschreien doch bitte leise zu sein.
„Und das heißt das wir nicht traurig sein dürfen und so tun müssen als wäre alles okay?"
„Nein Taddl, aber wir müssen da alle durch und jetzt ist Rewi draußen und wir müssen ihm helfen!"
Ich wollte nicht das man mir hilft.
Ich wollte daran zerbrechen.

let me forget | Psychiatrie IIWo Geschichten leben. Entdecke jetzt