Kapitel 3

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Am nächsten Morgen verabschiedete ich Mary, die beschlossen hatte schon Freitag zu ihrer Mutter zu fahren, und ging danach zu Arbeit.

Immer wieder hielt ich in meiner Arbeit inne und versank in Gedanken an die Vergangenheit. Jeder Gedanke endete bei Sherlock. Zwanghaft versuchte ich diese Erinnerungen zu vertreiben, doch je mehr ich es versuchte, desto intensiver wurden die Gedanken. Mir vielen all die Kleinen Details auf, welche Sherlock und ich damals ignoriert hatten.

All die kleinen Anzeichen, welche für eine ganz andere Beziehung sprachen, als diese, welche wir damals geführt haben. Wieso fiel mir dies erst jetzt auf, wenn bereits alles zu spät war? Ich bemerkte gar nicht, dass mir Tränen das Gesicht herunterliefen und auf meinen Unterlagen landeten.
Viel zu sehr war ich in der Vergangenheit gefangen. In einer Vergangenheit, in der alles scheinbar perfekt war. Ich wollte der Realität entfliehen, raus aus dem echten Leben und in dieser scheinbar perfekten illusion weiterleben, bis...

Ja. Bis wann eigentlich? Bis Sherlock wieder bei mir ist? Das würde nie passieren und das war mir, als deutlich bewusst. Ich konnte nicht in der Vergangenheit bleiben. Ich musste weiterleben. Sherlock hatte mich beschützt und ich konnte mein Leben doch jetzt nicht einfach aufgeben! Das hätte er nicht gewollt.

Aber ich konnte einfach nicht!

Ein lautes Schluchzen riss mich aus meinen Gedanken. Ich schaute mich um, um zu entdecken, wer weinte und ihn zu trösten, doch ich war alleine im Raum. Erst einige Sekunden später realisierte ich, dass ich derjenige war, der diesen Laut von sich gegeben hatte. Ich vergrub mein nassgeweintes Gesicht in meinen Händen und seufzte. Es kam jedoch nur ein weiteres Schluchzen aus meinem Mund. Gequält schloss ich meine Augen und konzentrierte mich darauf ruhig zu atmen.

Ich musste stark sein und mich zusammenreißen. Unmengen solcher Gedanken schossen mir durch den Kopf, doch keinen einzigen von diesen konnte ich auch nur ansatzweise umsetzen. Ich war doch extra zur Arbeit gekommen, um mich abzulenken und eben nicht nachdenken zu müssen. Und nun saß ich hier in dem kleinen Pausenraum und konnte nicht aufhören zu weinen. Was war nur heute los mit mir?

Seufzend erhob ich mich und wischte mir über mein Gesicht, welches bestimmt schon ganz rot und verquollen von dem vielen weinen war. Ich fuhr mir durch die Haare und überlegte mir, wie ich nun vorgehen sollte. Eines war auf jeden Fall klar. Arbeiten konnte ich heute nicht, dafür war ich viel zu aufgewühlt. Also entschloss ich mich, meine Sachen zu packen und mich für heute abzumelden.
Als ich am Empfang zum Krankenhaus angekommen war und meiner Kollegin mitteilte, dass ich mich nicht gut fühle und daher Heim ginge, bekam ich von ihr einen mitleidigen Blick und die Antwort: „Alles gut, John. Du siehst wirklich schlimm aus. Ich hoffe, es geht dir bald besser. Bis bald."

Na vielen Dank auch. So bald wir sich mein Zustand bestimmt nicht ändern.

Ich fuhr mit der Bahn nach Hause und beschloss, mich erst einmal hinzulegen und zu schlafen. Allerdings konnte ich nur fünf Minuten still liegen, bevor ich es nicht mehr aushielt und wieder aufstand. In mir befand sich eine innere Unruhe, welche von allen Tätigkeiten, die ich versuchte auszuüben, abhielt. Grummelnd zog ich mich an und stapfte aus dem Haus.

Mit den Händen in den Hosentaschen schlenderte ich durch die Straßen und Gassen Londons, wobei ich kaum etwas von meiner Umgebung mitbekam, sondern viel mehr in meinen Gedanken versunken war, welche alle von Sherlock handelten.

Man könnte meinen, dass nach dem Verlust eines geliebten Menschen der Schmerz langsam abklingen würde, doch ich hatte viel mehr das Gefühl, dass sich die ganze Trauer, die Angst, die Hilflosigkeit und Einsamkeit sich nach und nach immer weiter in mir anstaute. Mein Körper fühlte sich an, als würde er jeden Moment auseinanderreißen. Zu viele unterdrückte Gefühle trug ich in mir.

Ich blieb mitten auf dem Gehweg stehen und schnappte nach Luft. Zitternd schloss ich meine Augen und versuchte mich auf meine Atmung zu konzentrieren.

Langsam schaffte ich es, mich wieder zu beruhigen und öffnete die Augen. Ich fuhr mir durch meine verschwitzen Haare und strich meine Kleidung glatt. In dem Moment in dem ich loslief, beschloss ich etwas zu tun, was ich mir geschworen hatte, nie mal mehr zu machen.

Bereits wenige Minuten später Klingelte ich an einer Tür, welche ich schon unzählige Male geöffnet und geschlossen hatte. Langsam öffnete sich die Tür und ein all zu bekanntes Gesicht kam zu Vorschein. Sofort wurde ich in die Arme meiner früheren Vermieterin geschlossen, woraufhin ich ihre Geste erwiderte.

Es wurden keine Worte gewechselt. Wir standen beide einfach nur in der Türschwelle und hielten uns in den Armen. Zwischendurch ertönte immer mal wieder ein leises Schluchzend, wobei ich hinterher nicht mehr genau sagen konnte, von wem von uns beiden dieses Geräusch stammte. Schließlich löste sie sich von mir, lächelte mich traurig, bat mich herein und stellte mir in ihrer Wohnung Tee und Gebäck hin.



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