Persönlicher Brief
Guten Abend liebe Leser, Freunde und Feinde, Verehrer und Unruhestifter, Friedenswächter und Streithähne, Frauen, Männer, Kinder und ganz persönlich: Moin, Du,
die Welt ist groß. Manche mögen glauben, dies sei positiv gemeint – aber in diesem Brief ist es das nicht.
Wenn ich morgens aufstehe, geweckt von den Streitereien meiner unzähligen Geschwister, stelle ich mir oft die folgende Frage: Was mache ich denn heute?
Ich habe viel erlebt. Amerika, Deutschland, Schweiz, Dänemark, Italien, Frankreich, Holland, Indien, Bayern und noch ein wenig mehr, an das ich mich nicht erinnern kann. Doch wenn ich dann so auf meinen Tag blicke, darf ich mich zurecht wundern. Meine Abenteuer-Liste ist groß und bedauerlicherweise wird an einem normalen Tag nichts davon abgehackt:
Tiger anbrüllen – nope
Kopf gegen den Eiffelturm schlagen – nope
Hand in den Amazonas tauchen und hoffen, dass mir genügend Zeit bleibt, sie wieder heile rauszuziehen – nope
Barfuß auf einem Vulkan laufen, dessen Boden einfach nur verdammt heiß ist – nope
Auf Hawaii einer tanzenden Frau auf den Kokosnuss-BH glotzen, während ihre Hüfte in einem himmlischen Tanz ihre Kreise zieht – auch das nope.
Die Liste ist noch lang. Aber trotz meiner Erlebnisse, trotz meiner Reisen, niemals blicke ich in den Tag und sage mir: Heute hast Du Dich der Welt gestellt.
Dabei ist diese Weltansicht doch genau das Absurde an allem. Was wäre, wenn ich nicht wüsste, dass die Welt so groß ist? Würde ich dann auch jedes Mal rein aus eigenem Stolz heraus – was schon ziemlich arrogant ist, aber es ist doch so! – wegsehen, wenn eine gewöhnliche Frau mit Zigarette vorbeiläuft. Es gibt ja genügend Frauen auf diesem Planeten, ist mein Gedanke dabei, auch welche, die nicht rauchen. Müsste ich mir dann wegen eines Penners Gedanken machen, obgleich es in Afrika so viel mehr Leben zu retten gilt? Würde ich da nicht einfach meinem Vater gehorchen, Gott verehren und genau das tun, was man mir sagt – weil mein Weltbild in eben diesem Falle nicht so viele Möglichkeiten offen hielte.
Die Materie beißt sich, habe ich das Gefühl. Das macht mich neugierig und ich gehe näher darauf ein: In der Vergangenheit gab es dieses Phänomen nicht. Da waren Romeo und Julia in einer Stadt, liebten sich so sehr und wussten, es gäbe niemand sonst auf dieser Erde, der sie so fühlen ließe. Was wäre, wenn man Romeo gesagt hätte, dass die hübschesten Frauen in Schweden leben? Oder die Brasilianer den coolsten und heißesten Karneval feiern. Und die Asiaten Haar wie Seide haben (strukturell war das jetzt die Spitze meiner Argumentationskette, also mein Das-haut-Dich-um-Romeo-Argument). Gewiss hätte er sich das nicht vorstellen können. Aber wenn Romeo heute leben würde, wäre er mit 16 nicht auch in Angelina Jolie verknallt? Und Julia, au weia, da gibt es ja noch sowas wie One Direction, Twilight oder Channing Tatum. Klar, Romeo und Julia: Liebe auf den ersten Blick und gleich noch schwängern, wenn’s geht. Aber ich verspreche Euch, Romeo würde sich heute den Selbstmord zwei Mal überlegen.
Mit diesem Beispiel möchte ich nicht für Komik sorgen, ich meine es ernst. Was wäre mit uns, wenn wir nicht einmal wüssten, wie das nächste Dorf aussieht? Würden wir da nicht Dinge ein wenig anders sehen?
Meiner Meinung nach ist es nicht angebracht, über so etwas besserwisserisch zu philosophieren. Recht hin oder her, Nös oder Joas, das sind keine utopischen Vorstellungen, die ich euch hier aufsetze. Romeo kann doch ruhig sterben, lasst ihn doch. Hier geht es um uns!
Wie sollt ihr das also verstehen? Auf keinen Fall behaupte ich, die Welt war früher besser. Klar war sie das – als die Menschen noch nicht lebten. Aber jetzt sind wir ja da und die Vergangenheit ist vergangen, unser Leben schreibt die Zukunft. Wir sind die Zukunft. Also, versetzt euch doch mal in diese Vorstellung hinein.
Unsere Aufgabe ist es, unser Leben so zu richten, dass wir zufrieden mit unserem Dasein einschlafen können. Dass wir das Beste aus unserer Situation machen. Doch je mehr wir über die Welt erfahren, desto größer wird das Bild über „unsere Situation“.
Und dies macht mir offensichtlich so Kopfzerbrechen. Wie kann ich denn die Zukunft schreiben, wenn ich weiß, dass ich nur einer von 7 Milliarden Menschen bin? Wäre es da nicht eben besser, wenn wir weniger wüssten? Um mehr Klarheit und Transparenz zu haben, direktere Konfrontation mit den wahren Möglichkeiten des Lebens, mehr Mäßigkeit der Arroganz unserer Sucht nach dem Unmöglichen. Ich schüttele meinen Kopf bei all der Verwirrung, die mir meine Vorstellungen verursachen.
Zerrissenheit betrachtet mich aus den Augen meines eigenen Spiegelbildes. Im einen Augenblick wünschte ich mir doch, dass ich alles sehen könnte, was man mir anbietet. Ich will zugleich Herkules sein, wie Obama reden und wie Barney Stinson die hübschesten Frauen flachlegen – suit up! Mein Blick ist bereit für die Welt da draußen. Aber gleich im nächsten Moment merke ich, wie klein ich bin. Wie ein Sandkorn in der Wüste, ein Tropfen im Meer. Unter all diesen Menschen gibt es doch so viele wie mich. Aus welchem Grund sollte ich besser sein?
Das gibt mir zu denken. In einem kleinen Freundeskreis fühle ich mich viel stärker, machtvoller – wichtiger, als in einem riesigen Fußballstadion mit 80 000 Zuschauern. Und wenn ich dies dann realisiere, mich weigere, so klein zu sein, stempelt man mich als Außenseiter der sozialen Gemeinschaft ab. Wie der Krümel vom Keks. Nichts mehr und nichts weniger.
Man kann es drehen und wenden, wie man will. Eins steht fest: Die Welt ist groß, meine Freunde, und ich erschein mir immer kleiner zu werden. Tag für Tag. Und wenn ich dann einschlafe und mich frage, was wird wohl aus dem nächsten Tag, dann weiß ich schon die Antwort.
Auf jeden Fall nichts, wovon es sich zu reden lohnt.
Und dann stehe ich in der Nacht auf. In der Abwesenheit meiner ständigen Selbstzweifel erhalte ich diesen Geistesblitz. Der Mond schmiert das fahle Licht in mein Zimmer, kalt und mit trockner Leblosigkeit. Aber mein Gedanke wärmt die Umgebung auf, meine Aura verschmilzt mit dem Licht und lässt es viel weicher, sanfter und kraftvoller erscheinen. Der Satz geht mir wieder durch den Kopf: „Nichts, wovon es sich zu reden lohnt“. Aber diesmal begleitet ein ganz anderes Gefühl, ein Gefühl der Macht, diese Worte.
Ich stehe auf, ziehe mich an und spaziere aus der Tür in die Nacht hinein. Als ich zurückkomme – eine Frische erfüllt mein von der Arbeit, von der ständigen Zukunftsangst, von dem Kleinsein geschwächtes Herz –, sehe ich wieder in den Spiegel. Ich nicke.
Wenn ich schon für die Welt von keiner Bedeutung bin, dann bin ich es wenigstens für mich.