Der heiße Becher in meinen Händen vertreibt das Zittern für eine Weile aus den Fingern. Ich überlege, worüber Nathan mit mir sprechen möchte, aber ich habe wirklich keinen Schimmer. Nachdem wir eine Weile schweigend nebeneinander her gelaufen sind, beschließe ich, diese peinliche Stille zu durchbrechen.
»Hör zu, wenn ich den Kaffee ausgetrunken habe, bleibt mir vermutlich nicht mehr viel Zeit, bis ich erfriere. Also was genau willst du denn jetzt von mir?« Ich versuche nicht zu genervt zu klingen und nehme demonstrativ einen großen Schluck, um das Ganze voran zu treiben.
Nathan lächelt verschmitzt und kramt etwas aus seiner Jackentasche. Damit wedelt er vor meiner Nase herum und bei genauerem Hinsehen fällt mir auf, dass es sich um eine Fotografie handelt. Ich bleibe stehen und nehme es in die Hand. Auf dem Foto ist ein rothaariges Mädchen zu erkennen. Sie sitzt im Zentrum des Bildes, hinter ihr ein riesiger Ahornbaum und um sie herum viele bunte Blätter und kleine Laubhaufen. Goldene Sonnenstrahlen bahnen sich Wege durch die eindrucksvolle Baumkrone und über die saftig grüne Wiese. Dieses Mädchen... Das bin ich auf dem Foto. Und es ist ein wahnsinnig gelungenes Foto. »Wow, Nathan, es ist wirklich schön.« Er lacht, aber es klingt zurückhaltender als erwartet. »Danke. Du scheinst allerdings überrascht zu sein.« Ich merke, wie ich erröte.
»Ich hatte einfach nicht damit gerechnet, dass du... solch ein Talent dafür hast«, antworte ich knapp.
»Und darf ich fragen wieso nicht? Du hast bisher keine meiner Arbeiten gesehen, geschweige denn mich kennengelernt. Oder sehe ich nicht so aus, wie deiner Meinung nach ein Fotograf auszusehen hat?« Er leert in einem Zug seinen Becher und zündet sich dann eine Zigarette an. Mit einer Handbewegung bietet er mir eine an, doch ich schüttele den Kopf und gebe ein »Nichtraucherin« von mir. Schulterzuckend steckt er die Schachtel zurück in die Tasche. »Und nein«, ergänze ich schnell, »So hatte ich es nicht gemeint. Ich weiß auch nicht. Ich schätze ich dachte einfach, du wärst so ein verrückter Stalker, der irgendwelchen Frauen nachstellt und mit Fotos von ihnen perverse Dinge anstellt... oder so... « Nathan legt den Kopf schief und nimmt einen Zug.
Wie er so da steht, mit seiner schwarzen Lederjacke, den wilden, dunklen Locken, die ihm locker in die Stirn fallen und dem Zigarettenrauch, welcher langsam durch seine Lippen fährt, könnte man meinen, er wäre mit James Dean verwandt. Er hat so etwas... Verruchtes an sich.
»Nein«, sagt er dann, »Solche Typen sind armselige Wichser. Sowas hab ich nicht nötig. Komm, ich bring dich noch zum Wohnheim, bevor du dir wirklich noch 'ne Erkältung einfängst.« Ich nicke. »Das Foto behalte ich aber.«
»Klar. Ach sag mal... « Nathan schnippst die Kippe weg und verschränkt die Arme vor der Brust. »Du heißt also tatsächlich Nou? Oder ist das eine Art Spitzname?«
»Es steht kurz für Anouk.«
»Französische Wurzeln?«
Er beugt sich leicht zu mir runter und betrachtet eindringlich mein Gesicht.
»Nein Quatsch. Mein Dad war immer ein absoluter Fanatiker was französische Filme angeht. Ich glaube, er kannte sie alle! Besonders alte Klassiker hatten es ihm angetan. Naja und seine Lieblingsschauspielerin war Anouk Aimée, deshalb schlug er diesen Namen meiner Mutter vor und er gefiel ihr sehr gut.«
Sofort schießen mir die Erinnerungen an unsere gemeinsamen Sonntagabende durch den Kopf. Pizza, ein alter Schwarzweißstreifen und wir zwei. Diese Abende gehörten nur uns. Und sie waren wunderbar. Ganz egal, wie viel Dad zu tun hatte, er hatte es irgendwie immer geschafft, diese zwei, drei magischen Stunden für unsere kleine Tradition freizuschaufeln.
»Kannte? War?«
Ich blicke ihn verwirrt an.
»Du sprichst in der Vergangenheitsform von ihm.«
»Ich möchte ehrlich gesagt nicht darüber sprechen.«
Schnell nehme ich noch einen Schluck Kaffee, doch mittlerweile ist der Rest im Becher nicht mal mehr lauwarm. Die Erinnerung an Dad und die Zeit mit ihm schmerzt zu sehr. Ich kann darüber jetzt nicht sprechen und schon gar nicht mit irgendeinem Fremden. Nathan scheint immerhin so viel Feingefühl zu besitzen, dass er nicht weiter darauf eingeht.
»Okay, sorry. Ähm, und dieser Blondie heute früh? Ist das dein fester Freund?«
»Ganz schön neugierig«, gebe ich zurück und bin froh über einen Themenwechsel. Wir laufen bis vor den Eingang des Wohnheims, wo uns eine piepsige Stimme zum Stehen bringt. »Nathan! Baby!« Als wir uns umdrehen, sehen wir ein Mädchen scheinbar wütend auf uns zu rennen. Ihr langer, blonder Pferdeschwanz wippt dabei hin und her und die rote Glitzertasche in ihrer Hand wirkt durch die wilden Armbewegungen wie ein Warnfeuer. »Nathan!«
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If Love Was A Season
Roman pour AdolescentsAnouk Evans ist fürs Studium nach North Carolina gezogen. Sie hat nur ihren besten Freund Marvin an ihrer Seite. Das kühle Verhältnis zwischen ihr und ihrer Mutter, der Verlust des geliebten Vaters und das gebrochene Herz machen der 19-jährigen sehr...