38. Brad Norris

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Auch am nächsten Morgen liegt Jim noch hinter mir, und bevor wir beide aufstehen müssen, verspricht er mir, sich heute Nachmittag nur Zeit für mich zu nehmen.
"Wir finden schon eine Lösung, du wirst schon sehen", murmelt er hinter mir, doch es fällt mir schwer ihm zu glauben. Wer weiß wie lange er heute arbeitet, oder ob er ein neues Spiel mit Sherlock plant und deswegen keine Zeit für mich hat. Irgendetwas kommt immer dazwischen.
Mein Arbeitstag scheint auch nicht wirklich vielversprechend zu sein. Wulf ist wie immer schlecht gelaunt, aber mittlerweile interessiert es mich schon nicht mehr. Mechanisch erledige ich meine Aufgaben, quäle mich durch den Tag und versuche irgendwie die Motivation zu finden, um nicht einfach alles hinzuschmeißen. Dies ist ziemlich schwer, besonders als ich in einer von Wulfs Besprechungen sitze und Zeit habe, darüber nachzudenken warum ich all das mitmache. Warum ich mir das jeden Tag aufs Neue antue.
Falls Sybille meine momentane Stimmung bemerkt, sagt sie jedenfalls nichts dazu. Sie erzählt während der Mittagspause von ihrem Wochenende und dankt mir mindestens dreimal dafür, dass ich auf Jamie aufgepasst habe. Ich lächle nur und höre zu, ohne selbst groß zu reden.
Nach der Mittagspause allerdings passiert etwas, was mich meine Gefühle auf Seite schieben lässt. Denn Sybille klopft an meine offenstehende Bürotür als ich gerade dabei bin am Computer zu arbeiten. Wulf telefoniert in seinem Büro mit irgendjemanden, sodass seine Tür geschlossen ist. Ich schaue auf als meine Kollegin den Raum betritt.
"Was gibt's?", frage ich und sie kommt auf mich zu.
"Wir sollen sofort hoch in die Chefetage kommen", informiert sie mich mit gedämpfter Stimme, während sie leicht nervös mit dem Saum ihrer Bluse spielt. Überrascht lasse ich mich in meinem Stuhl zurückfallen.
"Meinst du, das hat etwas mit unserem... Projekt zu tun?", frage ich mit einem seltsamen Gefühl nach. Ich hätte nicht gedacht, dass das so schnell geht, geschweige denn dass man uns zu Wulfs Chef bestellen würde.
Sybille zuckt mit den Schultern.
"Sieht ganz danach aus."
Daraufhin fahre ich den Computer herunter und erhebe mich dann von meinem Platz. Gemeinsam verlassen wir mein Büro und gehen durch die Abteilung zum Aufzug.
"Willst du Wulf nicht Bescheid sagen wo du steckst?"
Ich schüttele den Kopf.
"Der telefoniert gerade, ihn zu stören wäre also Selbstmord. Außerdem geht es ihn gar nichts an, er würde nur Fragen stellen und dann gäbe es Theater."
"Da hast du auch wieder Recht."
Wir betreten den leeren Aufzug und Sybille drückt auf einen Knopf, der uns zwei Stockwerke nach oben bringen soll.
"Ich hoffe nur dass alles gut geht", meine ich mehr zu mir selbst als der Aufzug losfährt, da legt sie mir eine Hand auf den Arm.
"Warum sollte etwas schiefgehen? Das schlimmste was passieren kann, ist dass wir gefeuert werden, auch wenn ich nicht wüsste wieso. Wir haben mehr als genug gesammelt um im Recht zu sein."
Ihre aufmunternden Worte bringen mich leicht zum lächeln und ich entspanne mich ein wenig.
"Stimmt."
Eine Weile lang schweigen wir, dann räuspere ich mich.
"Ich bin echt froh dass ich dich getroffen habe, Sybille."
"Ich auch, Melody", antwortet sie lächelnd, da kommt der Aufzug zum stehen. Mit einem leisen Klingeln öffnen sich die Türen und wir betreten einen hellen Korridor.
"Büro 10", teilt Sybille mir mit und führt uns nach rechts, den Gang entlang.
Vor der Tür neben der Nummer 10 bleiben wir stehen. Schnell stelle ich sicher dass meine Haare nicht zu durcheinander aussehen, dann schauen wir uns an.
"Auf geht's", flüstert sie bevor sie an die Tür klopft. Wir werden kurze Zeit später von einem freundlich wirkenden, älteren Herrn begrüßt, der uns die Tür öffnet und uns hereinbittet.
"Sie müssen Melody Smith und Sybille Carter sein, mein Name ist Brad Norris. Es freut wirklich mich Sie beide kennenzulernen."
Mit diesen Worten gibt er uns beiden jeweils die Hand. Auf den ersten Eindruck scheint er kein besonders schwieriger Mensch zu sein, und ich merke, wie ich dem Treffen zuversichtlicher entgegensehe.
"Guten Tag, Mister Norris", grüßen wir zurück, bevor er uns bedeutet uns zu setzen. Sein Büro ist groß, hell erleuchtet und ansprechend eingerichtet. Man kann sich durchaus  vorstellen es auch an langen Tagen hier trotzdem gemütlich zu haben.
Sybille und ich setzen uns vor den Schreibtisch auf zwei Stühle, während Mister Norris auf dem Sessel dahinter Platz nimmt. Vor ihm auf dem aufgeräumten Tisch liegt der Bericht, den ich erst am Freitag abgegeben habe. Er räuspert sich, dann beginnt er wieder zu sprechen.
"Ich habe ihren Bericht über ihren Vorgesetzten, Mister Wulf, gelesen und muss sagen, ich bin schockiert. Es bedrückt mich dass all diese Vorfälle unter meiner Aufsicht stattgefunden haben und ich nie etwas bemerkt habe. Allerdings geben mir diese formalen Berichte nur einen beschränkten Einblick in das was wirklich passiert ist, und da ich nicht alle Mitarbeiter befragen kann, habe ich Sie zwei hergebeten. Immerhin sind Sie für den Bericht verantwortlich."
Ich nicke nur, während Sybille das Gesagte von Mister Norris bestätigt.
Während der nächsten Stunde beantworten wir diverse Fragen des Mannes, der uns aufmerksam zuhört. Bei ihm habe ich das Gefühl, dass ihm wirklich etwas am Wohlergehen seiner Untergebenen liegt, anders als Wulf. Das Gespräch ist längst nicht so unangenehm wie ich befürchtet hatte dass es sein würde, und auch Sybille wirkt entspannt.
Schließlich lehnt Mister Norris sich mit einem langen Atemzug in seinem Stuhl zurück und nimmt den Bericht erneut in die Hand.
"Nun ist alles klar für mich, vielen Dank dass Sie alle meine Fragen beantwortet haben. Eine Sache wäre da aber noch: Was denken Sie sollte man mit ihm machen?"
Überrascht schaue ich den älteren Mann an, und auch meine Kollegin scheint verwirrt zu sein. Warum fragt er uns das?
"Nun ja...", beginne ich zögernd. Unwillkürlich kommt mir das Bild eines verzweifelten Mister Wulf in den Sinn, er mit dem Brief des Anwalts seiner Frau. Der Kerl ist eigentlich echt arm dran.
"Ich denke nicht dass man ihn feuern sollte. Immerhin schadet er der Firma nicht, aber er sollte nicht mehr in einer Führungsposition arbeiten", schlage ich vorsichtig vor und Mister Norris nickt langsam.
"Was denken Sie?", wendet er sich nun direkt an Sybille.
"Eigentlich schließe ich mich da meiner Kollegin an. Mister Wulf ist kein schlechter Mensch, er hat nur... immer einen schlechten Tag? Ich glaube, er hat noch eine zweite Chance verdient."
Wieder nickt Mister Norris, dann klatscht er unvermittelt in die Hände.
"Dann weiß ich schon ganz genau was ich tun kann. Für Sie beide gilt erstmal, dass Sie wieder an die Arbeit gehen, er soll doch keinen Verdacht schöpfen. Allerdings gehen Sie nach Hause, Miss Smith, um ihren Chef kümmere ich mich. Und ich gehe davon aus dass Sie ab spätestens Mittwoch nicht mehr als Sekretärin arbeiten müssen, auch wenn ich finde dass Sie ihren Job ziemlich gut gemacht haben."
Überrumpelt starre ich ihn an.
"Ähm, vielen Dank..."
"Danken Sie mir nicht, dafür habe ich all das viel zu lange nicht bemerkt. Ich werde ihn sofort zu mir schicken lassen."
Ich kann mir ein glückliches Lächeln nicht verkneifen als er sich von seinem Stuhl erhebt und uns zum Abschied die Hand gibt.
"Das Gespräch hat mir, abgesehen von dem unangenehmen Thema, sehr gut gefallen, vielen Dank dass Sie gekommen sind."
"Wir danken Ihnen", antwortet Sybille lächelnd, dann werden wir von Mister Norris zur Tür begleitet.
"Ich hoffe, wir treffen uns noch einmal, aber dann lieber zu ihrer Beförderung", meint er mit einem Lachen.
"Das wäre wirklich erfreulich", antworte ich ebenfalls lachend, dann verabschieden wir uns endgültig.
Im Aufzug fallen Sybille und ich uns erstmal um den Hals, beide erleichtert und glücklich dass alles so wunderbar gelaufen ist.
"Wir haben es geschafft!", jubelt meine Kollegin und ich lache.
"Zum Glück ist Mister Norris so ein herzlicher Mensch, es war wirklich ein angenehmes Gespräch."
Nickend stimmt Sybille mir zu, dann kommen wir wieder in unserer Etage an.
"Na dann, viel Spaß während deines freien Nachmittags", wünscht sie mir freudestrahlend und ich grinse.
"Danke, und dir noch für den Rest des Tages."
Mit einem Gefühl, als könne ich die Welt erobern, gehe ich wieder zu meinem Büro, um meine Sachen zu packen. Doch als ich gerade meine Tasche auf den Schreibtisch stelle, werde ich durch die aufgerissene Tür erschreckt.
"Wo zur Hölle waren Sie?", ruft Wulf so laut, dass die gesamte Abteilung es hören kann. Augenblicklich ist meine gute Laune dahin und ich befinde mich erneut auf meinem emotionalen Tiefpunkt von heute morgen. Kaum zu glauben dass ein einziger Mensch dazu in der Lage ist.
"Und was machen Sie da?", fragt er weiter als er meine Tasche sieht, kochend vor Wut.
Gerade will ich etwas antworten, da klingelt das Telefon von Wulf in seinem Büro. Genervt dreht er sich um und geht zu seinem Schreibtisch.
"Wer wagt es mich jetzt- oh, Mister Norris..."
Was zuerst ein wütendes Knurren in den Hörer war, ist jetzt ein peinlich berührtes Wispern.
Während ich meine Tasche packe, komme ich nicht umhin eine tiefe Befriedigung zu empfinden, angesichts der Tatsache, dass Wulf auf einmal ganz kleinlaut ist. Er bringt kaum einen ganzen Satz zustande, dann legt er auf. Ohne noch ein weiteres Wort zu sagen, verlässt er sein Büro.
Beinahe tut er mir leid, doch dann schiebe ich diese Gedanken von mir. Nur mit Mitleid kommt man bei diesem Menschen nicht weiter, das habe ich schon oft genug gemerkt.
Sobald ich das Büro verlasse und auf dem Weg nach draußen bin, steigt meine Laune wieder und ich hole mein Handy heraus um Jim die frohe Nachricht zu verkünden. Doch bevor ich auf den kleinen grünen Hörer drücke, zögere ich. Was ist wenn er gerade nicht gestört werden will?
Leise seufzend stecke ich es wieder weg, dann mache ich mich endgültig auf den Weg nach Hause.
Ein Problem von vielen ist schonmal aus der Welt geschafft. Irgendwie fühle ich mich, als würde ich langsam einen großen Berg abtragen, der mir den Weg zu meinem Ziel versperrt, nur dass ich keine Ahnung habe was dieses Ziel sein könnte. Glück?
Aber jeder sucht nach Glück. Tue ich das auch? Kann ich das überhaupt finden?
Solche und ähnliche Gedanken gehen mir durch den Kopf während ich mit dem Bus nach Hause fahre. Es ist noch zu früh als dass Jim bereits da sein kann, zumindest glaube ich das, bis ich sein Auto in unserer Einfahrt entdecke.

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Moriarty In Love - The GameWo Geschichten leben. Entdecke jetzt