1 - Yara

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Das Leben fragt dich nicht nach deiner Meinung – niemals

Ich möchte meine Erinnerungen verbrennen. Ich möchte sie nehmen, zusammenknüllen oder zerreißen, es ist mir egal, und sie mit allem, was mir geblieben ist, in Asche verwandeln. Mit all dem Schmerz, der Trauer und Wut, der Angst und dem großen Loch in mir drin.

Seufzend öffne ich meine Augen, versuche mich zu entspannen, was mir aber seit Monaten nicht mehr gelingen will. Ich fühle mich wie eine alte Frau, wie jemand, der seines Lebens müde ist, und nicht wie der Teenager, der ich bin. Vielleicht, weil ich nicht mehr die bin, die ich war – und es auch nie mehr sein werde.

Meine Knöchel treten weiß hervor, weil ich meine Schultasche so fest umklammere, als wäre sie mein Halt und nicht ich der ihre. Mit wilden, chaotischen Gedanken betrete ich das Gebäude vor mir, laufe durch die vertrauten weißen Flure und rieche den bekannten Duft nach alten Menschen, nach Essen und Desinfektionsmittel. Zu Hause. Ich genieße die kühle Luft, die mir entgegenschlägt und die Hitze des Sommers verdrängt. Die mir etwas Klarheit beschert und all die Erinnerungen für den Moment vertreibt.

Meine Tante rennt wahrscheinlich ein Stockwerk höher durch die Gänge, kümmert sich um all die Menschen, die unter Demenz und anderen Krankheiten leiden. Auch um Herrn Winter, der ihr immer an die Wäsche will und ständig alles fallen lässt, damit sie sich bücken muss.

Hier auf dem Flur 2A ist es ruhig und hell. Clarissa, eine ältere und freundliche Pflegerin, und Bea, eine von Tante Ems besten Freundinnen, begrüßen mich wie immer herzlich und doch distanziert, so als würden sie verstehen, dass ich eine Umarmung nicht ertragen würde.

Ich nähere mich Zimmer 22 und mein Herz beginnt in einem langsameren Rhythmus zu schlagen. In diesem Zimmer kann ich zur Ruhe kommen, ich selbst sein.

Ich kann zerbrechen.

Drei Mal klopfe ich an die Tür und höre das Lächeln in Phils Stimme, als er mich hereinbittet. Ich öffne die Tür und entdecke Phil sofort. Er sitzt in einem Schaukelstuhl vor dem Fenster, die Sonne strahlt ihm ins Gesicht und die Schatten seines Körpers fallen auf wunderschöne Art und Weise hinter ihn. Man könnte meinen, er betrachtet den kleinen Park des Altersheims, all die Menschen, die Bäume, doch ich weiß es besser: Phil sieht alles nur in seinen Gedanken.

Die Tür fällt hinter mir ins Schloss und meine Beine tragen mich wie von selbst zu ihm. Ich stelle mich neben ihn, schmeiße meine Tasche in die Ecke und bade nun auch mein Gesicht in den Sonnenstrahlen, genieße diesen Moment und versuche vergeblich ihn festzuhalten.

Meine Gedanken sind zu schnell, ich kann sie nicht stoppen, sie sind wirr und durcheinander, mein Herz ist zu schwer und ich kann das, was mich belastet, nicht einfach nehmen und wegwerfen. Ich habe es versucht.

»Heute ist dein erster Ferientag, nicht wahr? Was macht man denn heutzutage, wenn man sechs Wochen nichts zu tun hat?«

Phil lacht, sein weißer Bart und sein Bauch beben, und er zaubert mir damit ein Lächeln ins Gesicht. Seine wundervolle warme Stimme nimmt mir ein Stück meiner Unruhe.

»Wenn ich das wüsste.«

Ich ziehe mir einen Stuhl ans Fenster, lasse mich hineinfallen und stöhne auf. Ich bin so froh, dass dieser Tag zu Ende ist, und gleichzeitig bin ich es auch nicht. Sechs Wochen Ferien bedeuten sechs Wochen ohne Ablenkung. Es wird grauenhaft werden.

»Komm, so schlimm wird es schon nicht«, sagt Phil, als könne er meine Gedanken lesen. »Sag mir lieber, mit welchem Buch wir heute beginnen.«

Er klatscht freudig in die Hände. Gestern haben wir Moby Dick beendet, heute soll es mit Die Drei Musketiere weitergehen. Phil liebt Abenteuergeschichten, Märchen und Klassiker. An manchen Tagen sehe ich ihm die Sehnsucht an, wenn er meinen Worten lauscht. Ich sehe in seinem Gesicht, wie gerne er selbst die Worte lesen, sie zu einem Satz verbinden und aussprechen würde.

Manche Wünsche gehen nicht in Erfüllung, egal, wie sehr wir flehen und betteln, wie sehr unser Herz daran hängt. Aber was wären wir ohne sie?

Ich ziehe Dumas' Buch aus meiner Tasche und reiche es Phil. Es ist ein altbekanntes Ritual, etwas Vertrautes und Beruhigendes. Etwas, an dem wir uns beide festhalten können. Er nimmt es in seine Hand, streicht über den alten Ledereinband, fühlt, um zu sehen. Vorsichtig tasten sich seine Finger am Buchrücken entlang, über die eingravierte Schrift bis hin zum Lesebändchen. Er klappt das Buch behutsam auf, lässt die Seiten geräuschvoll umblättern und saugt den Duft des alten Papiers in sich auf. Es ist, als würde er dem Buch Hallo sagen – und das Buch ihm.

»Es riecht unbeschreiblich. Wusstest du, dass man sagt, dass man während des Lesens einen Teil von sich selbst zwischen den Zeilen eines Buches hinterlässt?«

Ich blicke ihn fragend an, während ich das Buch wieder von ihm entgegennehme.

»Was genau meinst du?«

»Wenn du dieses Buch jetzt liest, wirst du die Geschichte auf eine bestimmte Art lesen und verstehen. Wenn du das Buch in zwanzig Jahren wieder liest, wirst du das Buch sehr wahrscheinlich auf eine andere Art und Weise lesen, du wirst das Geschriebene vielleicht anders verstehen und deuten, aber das Wichtigste: Du wirst dich immer daran erinnern, wie und wo du es zuvor gelesen hast. Du schlägst dann nicht einfach nur dieses Buch auf, sondern auch Erinnerungen.«

Nun bin ich diejenige, die über den Einband des Buches streicht, während ich Phils Worte sacken lasse. Ich senke meine Augen, obwohl Phil mich gar nicht sehen kann, und versuche den Kloß in meinem Hals runterzuschlucken. Ich schlage das Buch auf, lese die ersten Zeilen und erinnere mich. Als ich diese Zeilen das letzte Mal las, saß mein Vater auf meinem Bettrand und gab mir einen Kuss auf den Scheitel.

»Lies nicht mehr so lange«, hat er gesagt. »Morgen ist Schule!«

Ich habe ihn nur verschmitzt angegrinst und genickt, was ihn zum Lachen brachte und den Kopf schütteln ließ. Er hat gewusst, dass ich das Lesen liebe, dass ich, wenn mir das Buch gefiel, nicht daran dachte, wie wenig Schlaf ich bekommen würde, sondern dass es nur noch darum ging zu wissen, was der nächste Satz brachte.

Ich zucke zusammen und atme laut ein, als ich Phils warme Hand auf meinem Knie spüre. Dass mir Tränen über die Wangen laufen, habe ich nicht mitbekommen.

»Yara, sie würden nicht wollen, dass du traurig bist.«

Ich nicke und ich weiß, Phil spürt das irgendwie, denn er nickt ebenso.

Nein, sie würden nichtwollen, dass ich traurig bin, aber ich weiß, dass sie noch gerne leben würden.Ich will, dass mein Vater mir noch einmal sagt, dass ich nicht zu lange lesensoll, und meine Mutter mir noch einmal zuflüstert: »Alles wird gut, Yara, dumusst nur fest daran glauben!«ein lautesR:Y�p)Rh

Wir fliegen, wenn wir fallenWhere stories live. Discover now