Kapitel 9 - Hannah

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Die fünf Tage in Montreal waren wohl die angenehmsten, an die ich mich erinnern konnte. Ich schlief jeden Tag bis mittags und Raven war so gnädig und ließ das zu. Frühstück ließ ich ausfallen und gönnte mir in einem kleinen Restaurant nahe des Hotels ein leckeres Essen. Mithilfe des kostenlosen WLANs dort und dem Tablet der jungen Bedienung, die ich schnell um den Finger gewickelt hatte, forschte ich nach Hinweisen zum Aufenthaltsort der Artefakte und stieß eines Nachmittags auf einen interessanten Hinweis, den ich gar nicht als solchen erkannt hätte, wenn Raven mich nicht auf einmal abrupt dazu veranlasst hätte, diesen einen Satz genauer unter die Lupe zu nehmen.

„Das Eiserne Kreuz auf dem Feldzeichen der Victoria erzeugt ein helles Leuchten, sobald die Sonne darauf scheint?"

Denk nach Hannah, drängte Raven. Welches der Artefakte ist klein genug und funkelt?

„Der Ring!", rief ich, nur um mir sofort auf die Zunge zu beißen. Einige Restaurantbesucher warfen mir merkwürdige Blicke zu, die ich mit einem Lächeln abtat und mich wieder dem Hinweis widmete.

„Der Ring befindet sich also auf dem Eisernen Kreuz der Siegessäule von Berlin", murmelte ich triumphierend.

Richtig. Und unser erstes Ziel ist ...

„Berlin."

Es war ein Kinderspiel, nicht aufzufallen, als ich den Flughafen von Montreal betrat, den Rucksack geschultert, die Haare tief im Gesicht. Ich hielt mich hinten, stieg als letzte ins Flugzeug und kuschelte mich tief in meinen Sitz. Ich hatte sie gesehen. Allesamt. Will. Ethan. Mara. Meine Mutter. Meine Tante. James.

Sie hatten ihre Aufmerksamkeit keine Sekunde von sich selbst gelöst und so konnte ich sie beobachten. Es erheiterte mich. Sie wirkten so verzweifelt. So hilflos. Und sie hatten keine Ahnung, dass ich bereits wusste, wo sich das erste Artefakt befand. Sie waren ja so ahnungslos. Ich kicherte in mich hinein und sank in meinen Sitz zurück. Irgendwann dämmerte ich weg und mein Unterbewusstsein kreierte einen Traum, von dem ich keine Ahnung hatte, wie es darauf kam.

Ich befand mich in einem Saal. Die hohe, gewölbte Decke schien ins Unendliche zu reichen. Runde Säulen aus weißem Marmor bildeten einen breiten Gang zum anderen Ende des Raumes und der Fußboden funkelte unnatürlich. Das hier war alles andere als normal. Ich sah an mir hinunter und registrierte das Kleid. Der samtene Stoff floss an meinem Körper bis zum Boden und glänzte in einem blassen Violett. Es fiel mir schwer, mich darauf zu konzentrieren, denn der Boden zog immer wieder meine Blicke auf sich. Es war, als würde er aus einem durchlässigen Material bestehen und doch war er so fest wie Stein.
„Hannah", hallte eine Stimme durch den Saal und ich hob den Kopf. Ich kannte diese Stimme ganz genau. Und tatsächlich. Am anderen Ende des Säulenganges stand Elara. Gekleidet ebenso wie ich mit einem Kleid, das tiefblau schimmerte und ihren Körper an jeder erdenklichen Stelle betonte. Ihre Schönheit blendete mich, doch es war nicht nur das. Sie leuchtete im wahrsten Sinne des Wortes.
„Hannah", hallte es sanft durch den Saal und ich setzte mich wie von selbst in Bewegung. Ich wollte zu ihr. So sehr. Da war kein Hass, keine Wut, die mich antrieben, sondern etwas anderes, das ich nicht in Worte fassen konnte. Doch mit jedem Schritt, den ich meiner Tante näher kam, fielen mir die Bewegungen schwerer. Es war als würde ich durch Schlamm waten, der immer undurchdringlicher wurde.
„Hannah."
Wieder drang Elaras Stimme an mein Ohr, aber nun schwang Verzweiflung darin mit. Ich blieb stehen und mein Blick zuckte nach ihr suchend ans Ende des Saals. Aber das konnte nicht sein! Ich war nicht einen Schritt vorwärts gekommen.

Etwas anderes übertünchte meine Aufmerksamkeit. Schatten. Dunkelheit. Sie krochen an den Säulen hinunter, schlängelten sich unaufhaltsam meiner Tante entgegen, deren strahlendes Licht zu verblassen begann.
„Elara!", wollte ich rufen, doch meine Lippen blieben verschlossen. Ich spürte die Angst in mir. Fühlte wie ihre eiskalten Klauen nach meinem Herz griffen und Kälte durch meine Adern floss.
Die Schatten erreichten Elara, wirbelten um sie herum und formten sich schließlich zu einer dunklen Gestalt. Obwohl ich so weit weg stand, sah ich das Geschehen, als würde es direkt vor meiner Nase ablaufen.
Die Gestalt regte sich und etwas erschien in ihrer Hand. Ihre Bewegungen kamen mir vertraut vor, aber ich war gelähmt vor Angst, weswegen der Gedanke in meinem Kopf keinen Halt fand. Wie in Zeitlupe hob sich der Arm und Licht reflektierte von dem Gegenstand in der Hand.
Ein Dolch.
Mir war als würde die Zeit stehen bleiben, mein Herz geriet aus dem Takt, stolperte wie ein Läufer über einen Stein und ich wollte losrennen, aber der Boden hielt mich in all seiner funkelnden Pracht gefangen.
„Hannah, hilf mir!", hallte Elaras Stimme zu mir hinüber. Schwach und kaum zu verstehen. Ihr Arm streckte sich mir in der Ferne entgegen, bevor die dunkle Gestalt zustieß und Elara beängstigend stumm zu Boden sank.

„Nein", flüsterte ich und registrierte nur am Rande, dass meine Stimme mir endlich gehorchte. Wie betäubt starrte ich auf die Stelle, an der der leblose Körper meiner Tante lag. Er schimmerte und die Luft um ihn herum waberte. Ich machte einen Schritt und der Boden gab mich frei. Jetzt rannte ich. Ich rannte auf die dunkle Gestalt zu, die einfach nur reglos dastand und riss ihr in verzweifelter Wut die Kapuze vom Kopf. Braune, lockige Haare füllten mein Blickfeld, die Gestalt drehte sich um und ich wankte voller Entsetzen zurück.
Saphirblaue Augen bohrten sich hämisch funkelnd in meine und ich schnappte nach Luft. Vor mir ... stand ich.
Eine Person, die mir in jedem Detail glich.
Die Erkenntnis ließ mir den Atem stocken. Ich hatte Elara umgebracht. Ich ganz allein.
     

Mit einem Ruck riss ich die Augen auf und saß aufrecht in meinem Sitz. Mein Herz klopfte heftig gegen meinen Brustkorb und ich atmete schnell. Die verschiedensten Gefühle wirbelten in mir herum und verschwommene Bilder meines Traumes liefen vor meinen Augen ab. Etwas tropfte von meinen Wimpern und ich fasste mir an die Wange. Sie war tränennass. Warum weinte ich? Verwirrt runzelte ich die Stirn und drückte den Rücken durch, bevor ich mir ungehalten die Tränen aus dem Gesicht wischte.

Vergiss, wer du im Traum warst und werde die, die du ebenfalls warst, dröhnte Raven Dragonis dunkle Stimme in meinem Kopf und verscheuchte alle lästigen Erinnerungen an die schwache Person, die um eine tote Elara Frey weinen würde. Mein Anführer hatte recht. Eher würde ich sie eigenhändig umbringen und keine einzige Träne vergießen. Nicht eine.

Nach einer gefühlten Ewigkeit auch mal wieder ein Kapitel für Euch :) Verzeiht die lange Wartezeit, aber die Schule hatte mich fest in ihren bösartigen Klauen, aber ich bin zuversichtlich, dass in nächster Zeit wieder öfter etwas kommt.  



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