Prolog - Runaways

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12 Juni, 2072 n.Chr. Washington, New-Seattle
Carry rannte. Sie rannte durch die leeren Straßen der Altstadt - so wurden seit Kriegsende die Teile von Städten genannt, die im Krieg zerbombt worden waren - fort von den heulenden Sirenen, die sie seit nunmehr einer halben Stunde verfolgten. Carry war eigentlich eher sportlich und sehr schnell, das war auch der Grund, weshalb sie bis jetzt noch nicht geschnappt worden war. Aber nach einer halben Stunde durch halb Seattle wurden ihre Muskeln müde und verweigerten ihren Dienst.
Carry zwang ihre Beine zu einem letzten Spurt, bis sie sich durch die zerbrochenen Fensterscheiben eines ehemaligen Feinkostladens in einen dunklen, staubigen Raum flüchten konnte. Heute war ein "Lucky Day". So nannten die Anwohner von New Seattle die Tage, an denen die Truppen - und somit auch die Spürhunde - der Regierung ausrückten, um irgendwelche Rebellenlager im Osten auszuräuchern. Allein diesem Umstand verdankte sie ihr gerade noch rechtzeitiges Entkommen.
Matt, ihr bester Freund, wenn man es so nennen konnte, eher ihr einziger Freund, hatte ihre Flucht vorbereitet, von dem Tag an, als er von ihrem Potenzial erfuhr.
Die Regierung nutzte einen wissenschaftlichen Test um die Menge an "körperinterner Paraenergie", wie Magie im gehobenen Sprachgebrauch genannt wurde, im Blut eines Menschen zu ermitteln.
Die Auswertung dieses Tests dauerte immer ein paar Tage, deshalb wurden die Testobjekte während dieser Zeit zurück in das Leben geschickt, aus dem sie zuvor gerissen worden waren. Der Test konnte vier verschiedene Ergebnisse liefern. Zum einen waren da die "Glücklichen". Das waren die Menschen, die keine Magie besaßen. Keine Magie hieß, von der Regierung in Ruhe gelassen zu werden. Darauf hoffte jeder einzelne, der diesen Test machte. Das zweite Ergebnis war ebenfalls erträglich.
" Körperinterne Paraenergie der Stufen 1-4". Menschen diesen Grades, also jene, die ein bisschen Magie im Blut hatten, wurden jeden Monat "geleert". Ihnen wurde Blut abgenommen, aus welchem die Regierung die Paraenergie entnahm. Sie durften ihr normales Leben weiterführen, solange sie keinen Stress machten. Den machte auch keiner. Es war besser so.
Das dritte mögliche Ergebnis war sehr viel schlimmer. "Körperinterne Paraenergie der Stufen 5-9"
Menschen mit diesem Ergebnis wurden von der Regierung gejagt und über einen monatelangen Prozess "geleert". Dabei wurde mehr als nur Blut entnommen. Diese Menschen wurden von der Regierung offiziell für " vogelfrei" erklärt, sie wurden enteignet und es wurde ein Kopfgeld ausgesetzt, falls sie entkamen.
Nicht schön. Dann gab es das letzte Ergebnis. Das Todesurteil eines jeden Testobjektes.
"Körperinterne Paraenergie der Stufen 6-11 - instabil". Wenn man dieses Ergebnis bekam, war die Zeit abgelaufen. Instabil bedeutete so viel wie "gefährlich". Wenn man instabil und eine Stufe 6 oder höher war, war Vorsicht geboten. Selbst für die Regierung. Man wurde informiert, normale Werte zu haben, während die Regierung eine Spezialeinheit aufstellte, die einen still und heimlich aus dem Bett entführte. Man wurde nie wieder gesehen und sämtliche Beweise der Existenz ausgelöscht.
Das war Carrys Schicksal. Matt, dessen Vater ein ranghoher Jäger war, hatte von dem Auftrag erfahren und Carry aus unerfindlichen Gründen die Flucht ermöglicht. Sie verdankte ihm ihr Leben und sehr viel mehr. Aber dafür war später Zeit. Jetzt musste sie ihre Flucht erst einmal erfolgreich abschließen. Die Geräusche der Sirenen hatten sich langsam entfernt. Und aufgrund irgendwelcher Rebellen, die ein Ressourcenlager der Regierung geplündert hatten, war die Spezialeinheit gekürzt worden. Es waren zwar immer noch sieben von Ihnen, aber wenigstens hatten sie keine Hunde. Carry kroch langsam durch den Raum, auf dem Weg zur Hintertür, die sie in eine dreckige Seitengasse führte. Sie lauschte nach Anzeichen der Sirenen, konnte aber nichts mehr hören, also schlich sie weiter in Richtung des von Matt genannten Treffpunktes. Die Altstadt von New Seattle war im Vergleich zu vielen anderen noch gut erhalten. Die Gebäude waren relativ unbeschädigt von den Paraenergetischen Bomben geblieben. Carry war früher oft hier gewesen. Sie war auf seltsame Weise fasziniert von den seltsam geformten Kratern und Raumverzerrungen, die die Magie hinterlassen hatte. Als Kinder waren sie und Matt immer hier gewesen und hatten über die Zeit vor dem Krieg nachgedacht. Als es noch die Vereinigten Staaten von Amerika gegeben hatte. Damals herrschte Frieden, zwar gefährdet wie es Frieden  immer war, aber dennoch Frieden. Sie hatten sich die Straßen und Gebäude unversehrt vorgestellt und das Leben der Menschen, die tagtäglich dort ihre Arbeit verrichteten.
Die Kenntnis dieser Umgebung nutzte Carry jetzt aus. Sie schlängelte sich durch die Straßen und Gassen, immer darauf bedacht, keine Aufmerksamkeit zu erregen. Zu ihrem Glück erreichte sie den Treffpunkt, eine verlassene Mall, ohne große Zwischenfälle. Matt war noch nicht da. Typisch, selbst an einem Tag wie diesem war er unpünktlich. Wahrscheinlich hatte er mal wieder irgendetwas vergessen. Carry musste unwillkürlich grinsen und bemerkte den Schemen erst, als er sie beinahe erreicht hatte. Der Jäger holte mit dem Elektroschocker aus und verfehlte sie nur um Millimeter. Sie duckte sich und sprang nach hinten, weg von dem Mann, der nun mit tödlicher Effizienz eine Schockpistole zog und feuerte. Trotz ihrer schnellen Reaktion erwischte sie die Ladung am Bein, welches sofort unbrauchbar war. Die Waffe war nur auf halbe Ladung gestellt. Sie war zwar nicht völlig gelähmt, sah aber keine Chance, zu entkommen. Der Jäger lud nach und zielte erneut, diesmal direkt zwischen ihre Augen.
Shit, das wars dann, dachte sie.
Er drückte ab und alles wurde schwarz.

Carry erwachte auf dem Beifahrersitz eines Fahrzeugs mit abgedunkelten Scheiben. Ihr Bein kribbelte und ihr Kopf dröhnte, aber ansonsten konnte sie keine bewusstseinseinträchtigenden Substanzen wahrnehmen. Sie drehte überrascht den Kopf und sah Matt am Steuer, eine Schockpistole auf dem Schoß. Er grinste sie beiläufig an, während er über eine verlassene Straße fuhr.
"Hat ja ganz schön gedauert, bis du wieder da warst. Ich dachte schon, du verpennst deine eigene Flucht."
Carry schüttelte benommen den Kopf.
"Der Jäger. Ist er...?"
Matt zuckte die Schultern und sein Blick wurde hart.
"Ich hab meine Schickpistole auf volle Ladung gestellt. Wenn er gut in Form war, wird er es überlebt haben. Also, wir haben alles was wir für zwei bis drei Wochen brauchen. Bis dahin sollten wir eine Bleibe gefunden haben."
Carry starrte ihn an. "Du... Du kommst mit mir? Aber, dein Vater! Deine Zukunft?!"
Er sah sie an und verdrehte die Augen "Natürlich komme ich mit dir. Du würdest nicht einen Tag ohne mich überleben, du hast ja nicht einmal an Wechselkleidung gedacht. Nein", sagte er und hob die Hand, als sie erneut den Mund aufmachte, um zu protestieren, "Ich bleibe bei dir, bis du an einem sicheren Ort bist. Was danach passiert, weiß ich nicht, aber wir passen lieber aufeinander auf, solange es geht. Wir sind jetzt beide Gejagte. Wir sind beide Runaways."
Carry betrachtete ihn von der Seite. Sein Lächeln sollte wohl aufmunternd wirken, doch es sah eher verkrampft aus. Doch in seinen Augen loderte etwas, das sie nicht einordnen konnte. Er hatte Recht. Sie starrte nach draußen auf die Straße, die sie durch die Ödnis von Washington führte.
Sie waren beide Runaways.

Children of AnarchyWhere stories live. Discover now