Manila
Zitternd verfluchte ich zum hundertsten Mal meine Situation. Mann, warum musste dieses Gebirge so furchtbar kalt sein? Es gab nun wirklich genug Faktoren, die mir das Einschlafen gerade mächtig erschwerten. Am schlimmsten nervten, wie eigentlich immer, die Sorgen.
Seit sie mit Kili aufgebrochen war, musste ich ununterbrochen an Lucy denken. Ging es ihr gut? Wirkte dieser seltsame Trank auch noch? Wo sie wohl jetzt sein mochte? Ob sie auch irgendwo weiter östlich am Rand dieses Pfades lag, fror und zum Mond hinaufsah? Vielleicht...
Ach, sie fehlte mir...
Gähnend drehte ich mich auf die andere Seite und platzierte mir eine Decke auf dem rechten Ohr. Ich versuchte damit, den Geräuschpegel, der links neben mir herrschte, ein bisschen zu dämpfen, aber eigentlich war dies ein hoffnungsloser Versuch, etwas gegen Filis Schnarchen auszurichten. Auch ohne Wein erreichte er dabei eine beträchtliche Lautstärke.
Nach ein paar Minuten erhob ich mich völlig entnervt, tapste zu ihm hinüber und schüttelte kurz seinen Arm. Er wachte nicht auf, drehte sich aber grunzend auf die Seite und säuselte etwas leiser weiter. Zufrieden ließ ich mich auf meinem eigenen Lager nieder und nahm mein Mond-Studium wieder auf.
Doch dann stöhnte es neben mir und aus dem Augenwinkel sah ich, wie der Thronfolger sich aufsetzte.
„Manila?", nuschelte er gähnend. „Alles in Ordnung?"
„Jaja. Alles bis auf die Tatsache, dass du lauter schnarchst als ein Warg.", grummelte ich.
„Oh, das tut mir leid.", gab Fili ehrlich zurück. „Aber geht es dir wirklich gut? Du wirkst so angespannt in letzter Zeit. Und du lachst nie. Für einen so fröhlichen Menschen wie dich ist das sehr ungewöhnlich..."
Herrje, er wollte reden. Naja, dem Neffen des Zwergenkönigs verwehrte man das eigentlich nicht. Außerdem... Er hatte ja Recht. Ich entwickelte mich zum Trauerkloß...
„Wie ist es für dich, von Kili getrennt zu sein?", fragte ich.
„Was?" Er sah mich etwas begriffsstutzig an. „Naja. Es fühlt sich nicht gut an. Da ist dieses ständige Bedürfnis, auf meinen Bruder aufzupassen, weil Kili dazu neigt, seinem Herz zu folgen und nicht seinem Verstand. Ich habe einfach Angst, dass er etwas Dummes tut und ihm deswegen irgendetwas zustößt. Ich weiß natürlich, dass er gut selbst auf sich achtgeben kann, aber trotzdem... Wenn er nicht da ist, spüre ich immerzu eine gewisse Leere."
„Genau das ist es.", sagte ich leise. „So fühlt es sich auch mit Lucy an. Sie ist ebenfalls nicht gerade ... kopfgesteuert... und noch dazu schwerkrank! Verstehst du nicht, das macht mich wahnsinnig, diese Sorge! Es kann immer etwas passieren. Denk nur an die Warge, die uns damals überfallen haben. Oder Orks... Oder Trolle! Oder sie bekommt wieder einen Anfall und Kili schafft es nicht, sie zu wecken! Sie könnte jederzeit-..."
„Manila!", unterbrach mich Fili leise, aber bestimmt. „Hör auf, so etwas Schlimmes zu denken! Kili ist einer der besten Kämpfer, die ich kenne und Lucy... Was auch immer dieser Heiler ihr da gegeben hat, sie ist stark genug, um sich ebenfalls zu wehren. Außerdem sind die beiden nur zu zweit unterwegs. Man wird es also reichlich schwer haben, sie zu finden. Zerbrich dir nicht so sehr den Kopf darüber. So langsam fange ich nämlich an, mir Sorgen zu machen. Um dich! Seit wir von Bruchtal aufgebrochen sind, sprichst du kaum noch, du isst fast nichts und lächelst nie. Was ist aus der fröhlichen und unendlich neugierigen Frau geworden, die uns sonst auf dieser Reise begleitete? Seit es Lucy schlechter geht, bist du niemals von ihrer Seite gewichen, hast niemanden auch nur eines Blickes gewürdigt. Ich weiß, dass du sie liebst wie eine Schwester, aber das, was du tust, ist unnormal. Wir beide haben das vielleicht nie so klar formuliert, wie Kili und Lucy untereinander es tun, aber eigentlich sehe ich dich als eine Freundin, nicht nur als Weggefährtin. Doch ich habe das Gefühl, du ... vertraust mir nicht auf die Weise, auf die ich es tue, sonst würdest du vielleicht mehr mit mir reden..."
Eine Weile starrte ich ihn nur tief getroffen an, ohne ein Wort sagen zu können. Bei den Göttern, er hatte Recht! Was, zum Teufel, war da bitte in mich gefahren? Was hatte die Trauer um Lucy nur mit mir angestellt? Wie blöd konnte ich eigentlich sein? Ich war unterwegs mit Fili aus dem Geschlechte Durin, Neffe vom König unter dem Berge und dessen Erbe und Thronfolger. Noch vor einem Jahr hatte ich mir nichts sehnlicher gewünscht, als ihn einmal zu treffen, ich hatte um ihn gebangt, mit ihm über Triumphe gejubelt und haltlos geweint, als er von Azog die Klippe hinunter gestoßen wurde. Ich hatte ihn vergöttert. Und jetzt, während ich ihn begleitete, ignorierte ich ihn, obwohl er zum Greifen nah war.
Manila, du bist ein selten dummes Kind!, schimpfte ich mit mir selbst auf Französisch.
„Wie blöd bin ich eigentlich?" Ich registrierte erst viel zu spät, dass ich das gerade laut sagte.
„Hm?" Fili sah mich sichtlich verwirrt an.
Peinlich berührt vergrub ich meinen Kopf zwischen meinen Knien.
„Was ist denn los?"
„Na, ich bin so dumm! Ich rede ja hier nicht mit irgendwem, sondern mit dir! Ich habe um dich geheult wie ein Wasserfall, als du starbst und jetzt behandele ich dich, als wärst du mein Bruder, der mich mit irgendwelchen doofen Fragen behelligt. Oh Valar, es tut mir so leid!"
Bewegt prustete ich in mein räudiges Taschentuch.
„Warte mal... Ich bin gestorben? Davon weiß ich ja gar nichts!", warf Fili ein. Im nächsten Moment brach ich leise in Gelächter aus. Wenn er wüsste, wie witzig sich diese Wendung anhörte!
„Ja, in unseren Geschichten.", schniefte ich lachend und machte eine wegwerfende Handbewegung.
„Erzählst du mir davon?", bat er.
„Ähm... willst du? Ich meine, es ist ja offensichtlich falsch, was ich da gesehen habe..."
„Das ist doch egal. Sag mir einfach, wie es passiert ist, damit ich weiß, wovor ich mich in Acht nehmen muss."
Ich grinste und begann, ihm von seinem Tod zu berichten.
„Also... Es ist in der Schlacht der fünf Heere passiert. Thorin, Dwalin, Kili und du seid auf den Rabenberg geritten, um Azog, den Schänder, zu töten. Stimmt es bis dahin wenigstens?"
Fili nickte.
„Gut... Sag einfach Bescheid, wenn meine Geschichte von den tatsächlichen Geschehnissen abweicht.
Als ihr den Berg erreichtet, musstet ihr allerdings feststellen, dass er vollkommen verlassen schien, also schickte Thorin deinen Bruder und dich los, um die Tunnel abzusuchen. Ihr wurdet aber nicht fündig. Die Orks waren anscheinend geflüchtet, doch so recht glauben konntet ihr das natürlich nicht. Du trugst Kili auf, einen anderen Teil des Berges zu durchsuchen und meintest, du würdest da, wo du warst, schon allein klarkommen-..."
„Warte... An dieser Stelle stimmt es nicht mehr.", unterbrach er mich.
„Das dachte ich mir schon!", gab ich zu und lachte. „Die dramatische Trennung der Charaktere und die darauffolgende Katastrophe – alter Hut!"
Fili lächelte etwas unsicher und bat mich schließlich, weiter zu erzählen.
„Was genau dann passierte, kann ich nicht sagen, das erfährt man in unseren Geschichten nicht, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass du auf deiner Suche von Azogs Schergen gefangen wurdest, denn-..." Ich stockte einen Moment und schluckte, bevor ich weiterredete. „... als nächstes zerrte dich dieses Ungetüm an den Rand der Klippe, wo Thorin, Dwalin und Kili dich gut sehen konnten.
Dann-..." Ich stockte erneut und rang um meine Fassung. „Dann stieß Azog dir seine Klinge in den Rücken... Du ... du riefst ihnen noch zu, dass sie fliehen sollten..." Verstohlen wischte ich eine einzelne Träne von meiner Wange. „... und dann warf er dich die Klippe hinunter, direkt vor ihre Füße...
Kili ist richtig durchgedreht... Er rannte sofort die Treppen hinauf, um dich zu rächen, doch ... leider lief er dabei Azogs Sohn Bolg in die Arme und ... starb wenig später durch dessen Hand..." Selbst im fahlen Mondlicht erkannte ich, wie der Thronfolger immer blasser um die Nase wurde, doch ich fuhr trotzdem unbeirrt fort. „Thorin und Azog fochten noch einen letzten Zweikampf auf dem gefrorenen Fluss aus und naja... Sie spießten sich mehr oder weniger gleichzeitig auf. Auch dein Onkel erlag seinen Wunden..." Ich wandte betroffen den Blick ab und gab mir die größte Mühe, nicht zu weinen. Das tat ich sowie so viel zu oft.
„Tut mir leid, dass dich das so mitnimmt.", sagte Fili plötzlich und nahm mich für einen kurzen Moment in den Arm. Es klang ehrlich.
„Was?" Erstaunt sah ich ihn an. „Na, du kannst doch nichts dafür, dass die Leute unserer Welt eine solch dramatische Fantasie haben..." Ich musste ein bisschen grinsen.
„Und, erzählst du mir jetzt, wie es wirklich war?"
„Ja, sicher." Fili schwieg einen Moment, als suche er nach Wörtern.
„Die Wahrheit ist... Eigentlich habe ich gar nicht so viel zu berichten wie du, weil ich einen Großteil von dem, was passiert ist, gar nicht miterlebt habe..."
„Wirklich?" Verwirrt sah ich ihn an. „Na egal, dann erzähle das, was du weißt... oder eben vermutest."
„Gut. Wie du schon gesagt hast, schickte Thorin Kili und mich los, um die Gänge unter dem Rabenberg abzusuchen, da Azog, der Schänder, plötzlich unauffindbar schien. Er war verschwunden und auch wir fanden ihn nicht, dafür aber diesen anderen Gundabad-Ork, Bolg hast du ihn genannt, nicht wahr?"
Ich nickte und erinnerte mich daran, dass nur Legolas dieses Scheusal von einem Sohn Azogs erkannt hatte.
„Er tauchte wie aus dem Nichts auf und griff uns an. Obwohl wir zu zweit kämpften, schien der Kerl eine wahre Übermacht gegen uns zu sein, denn wir hatten beide Schwierigkeiten, die Hiebe seiner Keule zu parieren. Als Kili und ich gerade eine gemeinsame Attacke starten wollten, schlug er mir damit gegen den Kopf und naja... Ich verlor das Bewusstsein. Erst am Abend wachte ich wieder auf und fand mich in der großen Halle von Thal wieder, wo die Elben ein Lazarett errichtet hatten. Mit Entsetzen musste ich feststellen, dass Thorin neben mir lag. Der Schänder hatte ihm in dem Zweikampf, den du schon erwähntest, eine gefährliche Stichwunde am Oberkörper zugefügt, doch die Elben behandelten ihn bereits mit Magie. Thorin ist stark, weißt du? Er überlebte nur recht knapp, erholte sich aber wieder überraschend schnell...
Allerdings... Von Kili fehlte an diesem Abend jede Spur. Ich war halb krank vor Sorge, vor allem, weil man mir nicht erlaubte, aufzustehen und ihn zu suchen..."
„Das wird auch seinen Grund gehabt haben!", schalt ich ihn. „Immerhin warst du verletzt!"
„Ich hatte doch nur einen kleinen Schnitt am Kopf!", wehrte der junge Thronfolger ab. „Naja... Die Narbe ist immer noch da, aber ich wäre damals durchaus in der Lage gewesen, Kili zu finden!"
„Eine Narbe? WO?", fragte ich entsetzt.
„Ach, man sieht sie nicht wirklich, weil sie unterm Haar verborgen ist. Hier..."
Ich erschrak ziemlich, als er auf einmal nach meiner Hand griff und sie nach oben an seinen Kopf führte. Langsam tastete ich über die Stirn und fuhr mit den Fingern in seine dichten, blonden Locken, bis ich eine kleine Erhebung erspürte. Fassungslos stieß ich die Luft aus. Von wegen ein kleiner Schnitt! Die Narbe war fast sieben Zentimeter lang. Das musste ein bösartiger und vor allem sehr schmerzhafter Riss gewesen sein. Kein Wunder, dass Fili stundenlang in Ohnmacht gelegen hatte!
„Ein kleiner Schnitt, schon klar!", grummelte ich. „Männer!" Da konnte man wirklich nur den Kopf schütteln. Peinlich berührt zog ich schnell die Hand zurück und wandte mich ab, denn ich hätte wetten können, dass man mir die Klatschmohn-Röte im Gesicht selbst bei fahlem Mondlicht ansah.
„Und was ist dann passiert?", fragte ich, um ihn abzulenken.
„Ähm... Ich musste natürlich im Lazarett bleiben, doch ich tat kein Auge zu. Irgendwann sagte mir jemand, dass man Dwalin losgeschickt hatte, um Kili zu suchen. Das beruhigte mich ein bisschen.
Es musste mitten in der Nacht gewesen sein, als dann plötzlich das Tor aufflog und die beiden herein marschierten. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie sehr mich das erleichterte – ich rechnete schon mit dem Schlimmsten. Immerhin hatte mein Bruder allein gegen Bolg kämpfen müssen..."
Ich lächelte. Ja, das konnte ich mir sehr gut vorstellen, Kili hätte schließlich auch tot sein können. Die ganze Sache erinnerte mich auf einmal sehr stark an unser zweites Frühstück bei Herrn Elrond, wo ich auch auf heißen Kohlen gesessen hatte, um zu erfahren, was mit Lucy geschehen war.
Fili fuhr fort:
„Jedenfalls, Kili kam sofort zu mir und erkundigte sich, wie es mir ging, aber als ich ihn fragte, was passiert war, sagte er nur recht knapp, dass der Ork tot sei und wandte sich dann ab. Die nächsten zwei Tage zog er sich zurück, redete mit niemandem und erschien auch nicht zur Totenfeier. Da wurde mir klar, dass dort auf dem Rabenberg etwas vor sich gegangen sein musste, was ihn sehr getroffen hatte. Wochen später, als er sich wieder normaler verhielt, versuchte ich, ihn darauf anzusprechen, aber ... er wollte nicht darüber reden. Um ehrlich zu sein... Ich weiß bis heute nicht wirklich, was sich dort oben abgespielt hat. Erst später merkte ich, dass Tauriel verschwunden war, deswegen fragte ich ein bisschen herum, doch ich fand nur heraus, dass niemand sie seit der Schlacht gesehen hatte... Die Waldelben waren selbstverständlich längst abgezogen, aber auch bei ihnen schien man sie vermisst zu haben..."
„Bei uns heißt es, dass Thranduil sie verbannte.", informierte ich ihn.
„Aber sie kämpfte in der Schlacht. Da verschwindet man doch nicht einfach so. Sie war wie vom Erdboden verschluckt!", gab Fili zu denken. „Irgendetwas ist geschehen und Kili war darin verwickelt, da bin ich mir sicher. Ich kann ihn nicht dafür verurteilen, dass er mir diese Sache vorenthält, aber ... irgendwie trifft mich das schon. Er ist mein Bruder und ... wir haben einander immer alles anvertrauen können. Nur das, wie es scheint, nicht..."
Ich schwieg eine Weile nachdenklich. Dass Kili nicht einmal Fili von dieser seltsamen Sache erzählt hatte, war schon merkwürdig.
„Glaubst du, er würde Lucy davon berichten? Denn ich weiß, dass sie das brennend interessiert."
„Also, wenn sie das schafft, soll sie mir unbedingt verraten, wie sie es angestellt hat. Den Sturkopf von meinem Bruder zu brechen grenzt fast an Unmöglichkeit!" Fili lachte leise.
„Ich wette, sie würde es hinkriegen.", sagte ich grinsend. „Wenn jemand Kili in Grund und Boden reden kann, dann sie."
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Ardatravel - Die Reise nach Mittelerde
FanfictionLucy ist siebenundzwanzig, Individualistin und der leidenschaftlichste Tolkien-Fan der Gegend, doch sie findet ihr Leben sterbenslangweilig und sehnt sich nach einem echten Abenteuer. Bei ihrer erfolglosen Suche nach der perfekten Reise landet sie a...