Prolog

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Die Hände des alten Mannes zitterten. Tränen standen ihm in den Augen, doch er blinzelte sie tapfer weg. Seine Familie stand um das Krankenhausbett herum, seine Frau streichelte ihm den Oberschenkel. Er redete nicht. Konnte gar nicht, selbst wenn er es gewollt hätte. Der Kloß der sich in seinem Hals befand ließ nicht zu, dass irgendein Ton über seine Lippen kam. In seiner faltigen Hand lag eine runde weiße Tablette. Auf ihr war ein schwarzer Totenkopf zu sehen. M.O.R.T.E.M. So hieß die kleine Pille, die gleich sein Herz ausschalten würde. Fieberhaft dachte der Alte darüber nach was er sagen könnte. Was sollten seine letzten Worte sein. Spontan fiel ihm ein ‚Ich liebe euch alle', aber das war ihm zu einfallslos, zu originell. Nach ein paar Minuten angespannten Schweigens öffnete er den Mund um etwas zu sagen, doch ein Schluchzen unterbrach ihn. Sein Blick huschte zu einer blonden Frau mitte 50. Seine älteste Tochter. Ihre Finger krallten sich gerade in die Jacke ihres Ehemannes, der ihr unbeholfen über's Haar strich. Er wirkte unfassbar hilflos dabei. Schnell wandte der alte Mann die Augen von den beiden ab. Er konnte den Burschen, der sich seinen Schwiegersohn nannte, noch nie leiden und lieber wollte er als letztes seine zwar schon schrumpelige, aber dennoch wunderschöne Frau ansehen, als den viel zu dürren Mann, der sich auch heute so viel glänzendes, fettiges Haargel in die Mähne geschmiert hatte, dass es aussah als hätte man ihm einen Eimer Apfelmus über den Kopf gekippt. Ein Lächeln legte sich auf seine Lippen, als ihm endlich die richtigen Abschiedsworte in den Sinn kamen. „Es war mir eine Ehre mit so wundervollen Menschen wie euch mein Leben verbringen zu dürfen." Verabschiedete er sich schlicht und einfach von allen Anwesenden, klammerte dabei allerdings den schmierigen Typen, an dem seine Tochter gerade hing, aus. Dann führte er ohne groß nachzudenken die Hand an den Mund und schluckte die Tablette hinunter. Nichts geschah. Alle starrten ihn an und er starrte zurück. „Ist... Stimmt irgendwas nicht?" Fragte er und wackelte verwirrt mit seinen Zehen um zu sehen ob sie noch funktionierten. Mühelos folgten sie seinem Befehl. „Ich sollte tot sein." Krächzte der Mann und sah nun verunsichert zu einem der Ärzte die im Hintergrund herumstanden. Ein dunkelhäutiger kahlköpfiger Mann trat hervor. „Die Wirkung sollte in ein paar Sekunden eintreten." Erklärte er und guckte gebannt auf seine Uhr als zähle er die Sekunden wie lange der Alte noch leben würde. Und dann spürte er es. Zuerst waren es die Füße, dann kroch die Benommenheit die Beine nach oben, erreichte schließlich seine Brust und kam letztendlich in seinem Kopf an. Denken konnte er plötzlich nicht mehr. Er tat seinen letzten schweren Atemzug wie automatisch, dann bewegte er sich auf einmal nicht mehr. Seine Augen blieben auf und schon legte sich ein heller Schleier über sie. Der Mund öffnete sich ein Stück und ein kleiner Speichelfaden lief ihm über's Kinn. Auch seine Haut sah plötzlich etwas grauer aus. Die Pille, die der Mann geschluckt hatte, tat, für was sie geschaffen worden war. Töten. Schnell eilten die Ärzte herbei, warfen ein weißes Tuch über den alten Mann und prüften nochmal ob er auch wirklich tot war. War er. „M.O.R.T.E.M." Diagnostizierte der Chefarzt lautstark, obwohl alle Anwesenden es bereits wussten. „Ist Pflicht das nochmal auszusprechen, damit es im Protokoll niedergeschrieben werden kann." Murmelte er und winkte dann seinen Helfern zu, die sofort zu ihm stürzten, um seine Anweisungen entgegenzunehmen. Die Familie des Toten stand reglos um das Krankenbett herum. Nicht fähig sich zu bewegen. „Er wollte es so." Schniefte seine Ehefrau. „Es ist gut so." Fügte ein blonder dicklicher Mann hinzu. Er trat nach vorne, strich über das weiße Tuch, dass den geliebten Menschen verdeckte und wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel. „Er war ein toller Mensch und ich will euch seinen letzten Willen verraten. Er selbst sagte zu mir, dass sein letzter Wunsch sei, dass wir alle noch ein erfülltes und schönes Leben führen sollten." Sagte er zu den anderen gewandt und ein paar nickten zustimmend. Nur ein kleines Mädchen schüttelte verwirrt den Kopf, zupfte fragend an dem Rock ihrer Mutter und fragte diese leise, wie der letzte Wunsch eines Menschen das Leben sein konnte, wo er doch gerade entschieden hatte zu sterben.

M.O.R.T.E.M.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt