Him & I - Eine Kurzgeschichte

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Es ist spät. Viel zu spät. Vor mir liegt eine endlos lang anmutende Straße, beleuchtet nur durch das spärliche Licht der viel zu schwachen Straßenlaternen. Hinter nahezu keinem Fenster brennt Licht, die meisten Menschen schlafen bereits friedlich in ihren Betten. Ich kenne die Stadt und ihre Straßen genau, lebe hier seit Jahren und bin diesen Weg schon unzählige Male gegangen. Doch die Nacht verändert alles. Sie lässt die Straßen fremd wirken, beschwört Schatten herauf, die sich vor meinen Augen zu seltsamen Gestalten verändern und mir zu folgen scheinen, mich von meinem Weg abbringen wollen. Sie lässt den Wind in den Blättern der Bäume in den Vorgärten wie flüsternde Stimmen erklingen, die mich locken und mir einreden wollen, ihrem Klang zu folgen. Die Nacht macht alles um mich herum geheimnisvoller, bedrohlicher. Ich ziehe den Reißverschluss meiner Jacke bis zu meinem Kinn hinauf, senke den Blick, werde schneller. Ich versuche, den Trugbildern der Nacht keine Aufmerksamkeit zu schenken, mir einzureden, dass mir mein Gehirn Streiche spielt. Eine Katze springt wenige Meter vor mir aus einem Busch und rennt schreiend über die Straße. Ich zucke zusammen, bleibe stehen und sehe ihr dabei zu, wie sie unter einem Zaun in den bewachsenen Vorgarten eines kleinen Hauses verschwindet.

Warum habe ich ihr nur zugesagt? Hätte ich diese dämliche Geburtstagsfeier nicht absagen können, stattdessen Zuhause bleiben und dort sicher sein können? Und warum habe ich ihm, von meinem Stolz zu Hochmut verleitet, verboten, mich Nachhause zu fahren, statt ihm diesen einen Gefallen zu tun, sein Ego zu stärken? Dann wäre ich der Nacht nicht ausgesetzt gewesen, hätte ihn mir lediglich die wenigen Minuten vom Hals halten müssen. Nicht, dass ich ihn nicht gerne in meiner Nähe habe. Seine eisblauen Augen, die mich von Weitem fixieren, meinen Körper mustern und mir wohlige Schauer über den Rücken jagen. Nicht, dass ich nicht gerne seinen definierten Körper heimlich betrachte, übersät von unzähligen Tattoos, die eine Geschichte schreiben, dessen Anfang und Ende unerzählt bleiben. Nicht, dass ich nicht gerne seine von jahrelangem Rauchen leicht kratzig gewordene Stimme höre und seinen warmen Atem in meinem Nacken spüre, wenn er leicht angetrunken seine Hände von hinten um meine Taille legt und mir meinen eigenen Namen in mein Ohr flüstert, dafür sorgt, dass sich jedes einzelne Haar meines Körpers aufstellt. Nicht, dass ich ihn nicht küssen will, wenn er mich im Nacken packt und seine vollen Lippen sich auf meine zubewegen, mein Körper in wohliger Erwartung zu zittern beginnt und ich mich dennoch energisch von ihm abwende, ihn wegstoße, mich umdrehe und vor ihm fliehe. Wir spielen dieses Spiel schon viel zu lange. Er weiß genau, wie es um meine Gefühle für ihn steht und wie sehr seine Anziehungskraft auf mich einwirkt. Und er weiß auch genau, dass mein Stand in einer von Klassen geprägten Gesellschaft es mir nicht erlaubt, meine Gefühle für ihn zuzulassen und dass meine strengen Eltern dieser Liebe sofort Einhalt gebieten würden, mich wenn nötig in einer anderen Stadt auf ein Internat schicken würden, nur um mich von diesem tattoowierten, bedrohlich erscheinenden Mann aus der untersten aller Klassen fern zu halten, in dem so viel mehr steckt, als sie sich jemals eingestehen würden. Als ich mir jemals eingestehen würde. Nur, um ihn nicht an mich heran zu lassen, meine Gefühle für ihn vor ihm zu verbergen und mir und vor allem ihm den Schmerz zu ersparen, der uns widerfahren würde, sollte ich nachgeben, meine Maske abnehmen und ihm erlauben, die Mauer, die ich um mich herum errichtet habe, einzureißen. Aber jedes Mal, wenn ich ihm begegne, sich unsere Blicke treffen und unsere Körper sich zufällig berühren, brechen kleine Stücke aus dieser Mauer heraus, machen sie instabil. Ich weiß genau, es wird nicht mehr lange dauern, und sie wird in sich zusammenbrechen. Ich werde an Stärke einbüßen und mich ihm hingeben, und das wird schlimme Folgen haben und mein und auch sein Herz entzwei reißen.

Ich stehe noch immer auf der Straße. Eine Träne läuft mir über die Wange. Wieso zwingen mich die konservativen Ansichten und Vorurteile einer antik anmutenden Klassengesellschaft und deren Konventionen dazu, meine Gefühle zu ignorieren, mein eigenes Wohlergehen zu vernachlässigen, nur um in ein von Irrtum und Starrsinn geprägtes Bild zu passen?

Die unter meine Kleidung kriechende Kälte reißt mich aus meinen Gedanken. Ich will weitergehen, doch plötzlich greifen mich große Hände grob und unvorsichtig an meinem rechten Arm, wirbeln mich herum. Ich starre in lüsterne Augen und ein wettergegerbtes, eingefallenes Gesicht und der Geruch von Alkohol und Schweiß steigen mir in die Nase. Der Mann presst grinsend hervor: „Na, was haben wir denn da? So spät noch alleine unterwegs? Ich schätze, man sollte dir eine Lektion erteilen!" Ich will schreien, doch kein Laut dringt aus meiner Kehle, der Mann presst mir einen feuchten Lappen auf Nase und Mund. Ich versuche, mich ihm zu entreißen, winde mich und schlage nach ihm, doch sein Griff wird fester und mein Körper immer schwächer. Er schiebt eine seiner dreckigen Hände unter meine Shirt. Ich erstarre, sehe mein Ende gekommen, mein Weinen erschüttert meinen Körper und mein Bewusstsein schwindet dahin. Das Geräusch quietschender Reifen dringt an mein Ohr, doch um mich herum wird alles schwarz.

Stechende Kopfschmerzen reißen mich aus meiner Bewusstlosigkeit. Ich lasse meine Augen geschlossen. Entsetzen und Panik begleiten die nun erscheinende Erinnerung an das zuletzt Geschehene. Mein Herz beginnt wie verrückt zu schlagen, meine schmerzenden Gliedmaßen unkontrollierbar zu zittern. Wo bin Ich? Was ist passiert? Was hat dieser grässliche Mann mit mir angestellt? Grauenvolle Vorahnungen bahnen sich ihren Weg durch die Tiefen meines Hirns bis an die Oberfläche meines Bewusstseins, lassen mich noch heftiger zittern, mein Herz so heftig schlagen, dass ich befürchte, der Mann könne es hören. Ich will klug handeln, still sein, meiner Umgebung Gehör schenken, meinen Tastsinn nutzen, um herauszufinden, wo ich sein könnte. Stattdessen steigen mir heiße Tränen in die Augen und ich kann ein Schluchzen nicht unterdrücken. Unmittelbar nach dem mir entfahrenen Ton höre ich ein Geräusch, höre das leise Rascheln von feinem Stoff auf sanfter Haut. Mein Herz setzt einen Schlag aus, vor meinem inneren Auge sehe ich mein Leben an mir vorbeiziehen und wünsche, ich könnte noch einmal meine Eltern in die Arme schließen und ihnen sagen, wie sehr ich sie dennoch liebe. Ich spüre deutlich, wie sich mir jemand nähert, spüre die Kälte das Schattens, den dieser jemand auf mich wirft. Eine Hand berührt mich sanft an der Schulter. Von Panik erfüllt reiße ich meine Augen auf, schreie aus vollem Hals, setze mich viel zu schnell auf und will mich rückwärts bewegen, meinem Entführer entfliehen, doch er packt meine Schultern. Durch meine viel zu schnelle Bewegung ergreift mich starker Schwindel, ein Schleier weißer, tanzender Punkte legt sich vor mein Blickfeld. Heiße Tränen laufen mir über die Wange, mein ganzer Körper zittert, ich bin mir sicher, ich bin verloren. Gegen diese starken Arme habe Ich keine Chance, niemals könnte ich mich ihnen entreißen. Ich senke den Kopf und warte darauf, dass sich der Schleier lichtet.

Ich blicke auf die Arme, die meine Schultern umklammern. Entdecke Farben und Muster, mir so vertraut, als kenne ich sie mein Leben lang. Mein Hirn beginnt zu begreifen. Ich hebe den Kopf und blick ihn an. Blicke in seine eisblauen Augen. „Du bist in Sicherheit", flüstert er mit seiner von mir so geliebten Stimme und lässt seine Arme sinken. Sekunden, Minuten starren wir uns an, ohne ein Wort zu sagen. Schließlich ergreift er meine Hände, verschlingt seine Finger mit meinen. Jedes einzelne an meinem Körper befindliche Haar stellt sich auf, Schauer durchfahren meinen Körper. Ich stoße ihn nicht weg, nein, ich lasse zu, dass er seine vollen Lippen auf meine legt und mich zuerst sanft, später immer energischer küsst. Ich kann nicht anders, als seinen Kuss zu erwidern. Schwer atmend lasse ich widerwillig von ihm ab, blicke erneut in seine eisblauen Augen. "Danke", flüstere ich heißer, bevor ich mich ihm erneut hingebe und unsere Körper miteinander verschmelzen.

Die Mauer ist in sich zusammengebrochen und ich steige über ihre Trümmer hinweg und weiß, dass ich niemals zurückblicken werde.     

Him & IWhere stories live. Discover now