Diese Geschichte wurde von dem Song Take Me Over von Red inspiriert.
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Das Knistern der Blätter unter meinen Füßen bei jedem Schritt, den ich machte, schien so laut wie Kanonenschüsse in dieser endlosen Stille, die mich umgab. Jeder Schritt fühlte sich schwer an und nur langsam konnte ich meinen ausgelaugten Körper vorantreiben. Die alles einhüllende schwarze Nacht schien mich verschlucken zu wollen, doch schritt ich dennoch voran, immer weiter geradeaus, ohne ein richtiges Ziel vor Augen zu haben. Wo ich eigentlich war, wusste ich schon längst nicht mehr. Es musste ein Wald sein, denn in meiner Erinnerung, oder zumindest in dem, was davon noch übrig war, tanzten die bunten Blätter wie kleine Feen durch die Lüfte. Ich war umgeben von Bäumen, das spürte ich einfach. Bis auf das Knistern der Blätter am matschigen Waldboden nahm ich keine Geräusche wahr. Es war unheimlich und doch machte sich so etwas wie Geborgenheit in meinem Inneren breit. Meine Sicht war auf einen kleinen weißen Punkt beschränkt, der ab und an direkt vor mir auftauchte, ehe er wieder verschwand. Was dieses Etwas war, konnte ich nicht sagen.
Während ich meinen Körper voran zerrte, dachte ich an nichts. Mein Kopf war eine einzige Leere. Keine Erinnerungen, bis auf die tanzenden Blätter, keine Gedanken, nur dieses Gefühl, immer weitergehen zu müssen. Wohin, wusste ich nicht. Wozu, wusste ich nicht. Wie, schien nur mein Körper zu wissen. Warum ich so ausgesprochen abgekämpft war, konnte ich mir nicht erklären. Eine unsichtbare Kraft zog mich zu sich.
Eine Wurzel musste sich mir in den Weg gestellte haben, denn noch bevor ich es richtig realisierte, machte ich schon Bekanntschaft mit dem Boden, jedoch fühlte ich weder einen Aufprall noch irgendwelche Schmerzen. Es war alles taub. Selbst mein Atem hatte ausgesetzt, oder zumindest fühlte es sich so an. Langsam stützte ich mich mit den Handballen am matschigen Untergrund ab, brachte mich nur schwerfällig in eine knieende Position ehe ich es irgendwie schaffte, ein Bein aufzustellen. Mit einer Hand stützte ich mich nun an besagtem Bein ab und versuchte, mich aufzustellen. Ein paar Schritte taumelte ich zur Seite, ehe ich halbwegs stabil stand. Ich versuchte durchzuatmen, sah nach oben in diese rätselhafte Schwärze und presste meine Augen zu.
Sekundenlang rührte ich mich nicht von der Stelle, doch war da wieder diese Kraft, die mich immer weiter zog. Als ich meine Augen nun wieder öffnete, war die Dunkelheit plötzlich verschwunden. Stattdessen schien es hier nun zu dämmern. Während ich einen Fuß vor den anderen setzte, drehte ich meinen Kopf von links nach rechts, versuchte, meine Umgebung auszukundschaften. Alles wirkte so grau und leblos. Als wären die Bewohner dieses Waldes, all die Tiere, die hier eigentlich beheimatet sein sollten, spurlos verschwunden. Diese Wirkung hatte dieser Wald auf mich. Die Blätter hingen trostlos von den Bäumen. Sie waren weder saftig grün noch wunderschön bunt. Ganz anders als in meiner Erinnerung. Die Bäume an sich schienen bis über die Wolken gewachsen zu sein. Die Baumkronen konnte ich gar nicht mehr sehen.
Wie lange war ich schon unterwegs? Ich fühlte, dass es sehr lange her sein musste, dass ich losgegangen war, doch hatte ich weder Hunger noch Durst oder sonst irgendein menschliches Bedürfnis. War ich denn überhaupt ein Mensch? Zum ersten Mal sah ich an mir runter. Eine alte, zerrissene und verwaschene Jeans bedeckte meine Beine. Ein löchriges, durchnässtes Shirt hielt meinen Oberkörper warm, soweit dies möglich war. Ich konnte es nicht beurteilen, denn wie sich Kälte und Hitze anfühlten, hatte ich längst vergessen.
Wohin wollte mich mein Köper führen? Dieser Wald schien gar kein Ende zu nehmen, so lange wie ich hier schon unterwegs war. Keine Seele schien hier herumzuwandern. Nicht einmal meine eigene. Dieses Gefühl der Leere in meinem Inneren hingegen schien immer präsenter zu werden.
Stille. Erdrückende Stille. Beängstigende Stille. Befreiende Stille.
Ich wusste nicht, welches Gefühl nun angebracht war. Ein weiteres Mal schloss ich meine Augen und ließ mich einfach nur von dieser unsichtbaren Kraft ziehen. Ohne zu wissen, wie ich auf diese Idee kam, streckte ich meine Hände nach vorne, als gäbe es da irgendetwas Greifbares und auf einmal spürte ich, wie etwas oder jemand meine Hand nahm und hatte urplötzlich ein wunderschönes silberweißes Augenpaar vor mir. Blitzschnell öffnete ich meine Augen, doch war weder eine Hand noch ein Augenpaar zu sehen. Das Gefühl, jemandes Hand zu halten, blieb allerdings bestehen. Etwas zog mich mit sich und meine körperliche Verfassung besserte sich abrupt. Es schien nun auch um mich herum heller zu werden. Die Leere in meinem Inneren blieb dennoch bestehen.
Kein einziger Gedanke schlängelte sich durch meinen Kopf. Wie ferngesteuert ging ich weiter. Ohne, dass ich es mitbekommen hätte, war der Untergrund nicht mehr matschig, sondern fest und trocken. Das plötzliche Verlangen zu rennen, ließ mich genau dies machen. Ohne über irgendetwas nachzudenken, machte ich einen schnellen Schritt nach vorne und rannte los. Es war fast so, als würde mich irgendetwas rufen und plötzlich war auch das Ende des Waldes in meinem Sichtfeld erschienen.
So schnell ich konnte lief ich auf dieses helle Licht zu, dass am Ende des dunklen Waldes auf mich zu warten schien. Erst als ich am Rande des Waldes angekommen war, war es mir möglich stehen zu bleiben. Der letzte Rest der Dunkelheit hatte sich verflüchtigt. Meine Beine fühlten sich längst nicht mehr schwer wie Blei an. Vor meinen Augen breitete sich eine saftig grüne Wiese aus, bewachsen von den schönsten Blumen. Eine Melodie ertönte in meinem Kopf. Ich kannte sie, sehr gut sogar, doch wusste ich nicht woher. Ohne es selbst richtig zu realisieren, begann ich die Töne mit zu summen.
Vorsichtig machte ich einen Schritt nach dem andern in die Mitte der Blumenwiese, atmete einmal tief durch und sah in den Himmel hinauf, der in strahlenden Orange-, Rot- und Lilatönen schimmerte. Die Leere in meinem Inneren schien sich mit Gefühlen, Düften, Farben und Melodien zu füllen, während mich erneut diese unsichtbare Kraft weiterzog. Meine Erinnerungen blieben dennoch fern. So ging ich immer weiter und weiter, ohne irgendwelche Fragen zu stellen. Diese hätte mir vermutlich ohnehin niemand beantworten können.
Ein weiteres Mal schloss ich meine Augen und ließ mich ziehen, bis ich plötzlich stehen blieb. Meine Augen öffneten sich für den schönsten Sonnenaufgang, den ich je gesehen hatte. Oder war es eher ein Sonnenuntergang? Ich wusste es nicht, doch konnte ich nicht anders, als dieses wunderschöne und beeindruckende Schauspiel vor meinen Augen zu bewundern. Mit einem Lächeln im Gesicht ließ ich meinen Blick zu meinen Füßen wandern und bemerkte erst jetzt, dass ich mich an einer abgrundtiefen Schlucht befand. Ein Zentimeter trennte mich vom Absturz, doch hatte ich keine Angst. Im Gegenteil. Mein Kopf war von dieser wundervollen, beruhigenden Melodie gefüllt.
Mein Blick wanderte nach vorne, um die wundervolle Sonne noch einmal anzusehen, jedoch wurde meine Sicht versperrt. Dies störte mich aber keineswegs. Vor mir war eine wunderschöne Gestalt erschienen. Mit strahlenden silberweißen Augen, langen ebenfalls silberweißen Haaren und einem Lächeln im Gesicht, dass die Blumen blühen ließ. Von ihr ging eine Wärme aus, die mich an diese Kraft erinnerte, die mich bis hierher getragen hatte. Ihr schmaler, jedoch großer Körper war in ein weißgrünes luftiges Kleid gehüllt und schien von den Strahlen der Sonne umgeben zu sein. Ihre helle Haut wurde förmlich eins mit dem Licht, das sie umgab.
So schwebte sie nur wenige Schritte vor mir. Stillschweigend streckte sie eine Hand nach mir aus, darauf wartend, dass ich sie ergriff. Unter mir befand sich immer noch die dunkle, anscheinend bodenlose Schlucht. Dieser Kontrast zwischen der schwarzen Dunkelheit unter mir und dem strahlenden Licht vor mir war unbegreiflich. Einmal sah ich über meine Schulter zurück zum Wald. Nun wirkte er noch trister als zuvor schon. Ich wandte meinen Blick zurück zu dieser Gestalt. Ihre friedlichen Gesichtszüge hatten sich kein bisschen verändert. »Vertrau mir!«, ertönte schließlich ihre glockenhelle Stimme. Die Melodie in meinem Kopf wurde lauter, als sich ein noch breiteres, seliges Lächeln in meinem Gesicht ausbreitete. Wie schnell sich doch ein Leben ändern konnte. Völlig losgelöst von allem, was schlecht sein könnte, ergriff ich die Hand, die mir immer noch entgegengestreckt wurde und machte einen Schritt nach vorne.
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Take Me Over
Short StoryGefangen in den Tiefen der schwarzen Nacht. Keine Erinnerungen, an denen man sich festklammern könnte und Fragen, die einen nicht loslassen. Was bin ich? Wo bin ich? Wem gehören diese wunderschönen Augen? Eine kleine Geschichte, inspiriert von dem...