Harry hielt sich das geschwollene Auge. George hatte ihn unsanft aus dem Zelt gezerrt und auf dem Rasen hinter dem Haus abgelegt. Harrys Rücken war gegen eine straff gespannte Zeltleine gelehnt, während er versuchte mit einem Auge die schwankende Welt zu sortieren. Noch immer tobte die Wut in ihm, doch er war viel zu desorientiert gewesen um sich gegen den starken Griff des Weasley-Zwillings zu wehren. Jetzt wo er ins Gras sackte merkte er deutlich, dass er nicht mehr Herr seiner Sinne und seines Körpers war. Er hätte nicht aufstehen können, selbst wenn er gewollt hätte.
Ein weiterer rothaariger Mann kam aus dem Zelt gestürmt. Harry hatte alle Mühe seinen Blick ruhig genug zu halten um zu erkennen, dass es sich dabei um Ron handelte. Auf seinen Fersen folgte ihm Hermine, die offensichtlich auf ihn einredete.
"Ron bitte beruhig dich, es ist doch nichts passiert!" Sie versuchte ihn am Ärmel seines kastanienbraunen Festumhangs zu packen, aber er wehrte sie mit einer Handbewegung ab.
"Das ist nicht dein Ernst Hermine, oder? Du verteidigst ihn? Obwohl er sich nach über drei Monaten das erste Mal blicken lässt, sich dann volllaufen lässt und Neville verprügeln will? Nicht dein Ernst oder?" Rons laute Stimme halte von den schiefen Mauern des Fuchsbaus wieder. "Ich versteh schon, der große Harry Potter darf sich benehmen wie er will! Promi-Bonus, oder so! Zur Hölle, Hermine. Hätte ich mich so aufgeführt, hättest du mich schon vor Monaten mit Stinkbomben aus meinem Versteck geholt!" Ron blickte Hermine nieder und sie schloss ihren Mund ohne die Erwiderung auszusprechen die ihr auf der Zunge lag. Selbstzufrieden drehte Ron sich zu Harry. Harry wollte sich aufrichten und hielt sich an der Ankerleine des Zelts fest um sich hochzuziehen. Die unsichere Stütze ließ ihn jedoch noch mehr schwanken und er plumpste ungeschickt zurück auf den Rasen.
"Was zum tollwütigen Hippogreif ist los mit dir Harry? Bist du jetzt vollends verrückt geworden? Was soll das?" Ron ging weiter auf Harry zu. Er stand jetzt genau vor ihm, thronte über der zusammengekauerten Gestalt im Gras. Beschämt betrachtete Harry Rons Schuhe, die offenbar im Gegensatz zum Umhang nicht neu waren, sondern an der Sohle bereits aus dem Leim gingen.
"Denkst du, du tauchst hier auf und machst einfach alles kaputt? Mum hat sich so auf das Fest gefreut und sie hat sich seit Wochen in die Planung gestürzt. Sie meinte immer wieder dass wir die Gelegenheit nutzen sollten, mal keine Trauerfeier ausrichten zu müssen und uns stattdessen freuen sollten." Ron blickte flüchtig zu seinem Bruder hinüber. "Und dann glaubst du dich betrinken zu müssen? Wie alt bist du denn eigentlich? Vierzehn? Oder glaubst du für den ach so großen Harry Potter gelten keine Regeln? Bei Merlins verschlissener Unterhose, am liebsten würd ich dich einfach in das Loch zurück hexen in dem du dich die letzten verdammten Monate verkrochen hattest."
Harrys Zunge fühlte sich dick und schwer an und er bekam die Zähne nicht auseinander um sich gegen Rons Beschimpfungen und Vorwürfe zu wehren. Er schluckte schwer und sein Gewissen begann durch den Nebel an Alkohol vorzudringen.
"Hast du auch nur eine Vorstellung davon wie schwer die letzten Monate für uns waren?" Ron senkte bedrohlich seine Stimme. "Hast du eine Vorstellung davon, auf wie vielen Beerdigungen ich war?" Ron schluckte hörbar. "All die Opfer der Schlacht um Hogwarts, alle die die davor und danach von den Todessern niedergestreckt worden sind...", murmelte Ron. "Du hast keine Ahnung, Harry. Wie auch! Du hast dich versteckt, dich vor der magischen Welt zurückgezogen, aber für die Menschen warst du wichtig! Wir drei waren so etwas wie das goldene Trio! Alle die Du-weißt-schon-wem Widerstand geleistet haben, haben auf uns gezählt und ihre Hoffnung auf uns gesetzt!" Rons Stimme war jetzt nur noch ein bedrohliches, trauriges Flüstern, aber sein Ton schnitt messerscharf durch Harrys Bewusstsein.
"Ich hätte mich auch am liebsten verkrochen, Harry. Um meinen Bruder getrauert und den anderen gesagt sie könnten sich zu den Acromantulas scheren, aber alle kennen mich. Mein Vater ist im Ministerium und meine Familie ist überall bekannt. Alle wussten dass ich da bin, während du verschwunden bist und Hermine ihre Eltern suchen musste." Hermine hob hinter Ron betroffen den Kopf.
"Ron.... Ich... Ich wusste nicht dass es so schwer war für dich hier. Ich hätte doch..." Ron unterbrach sie.
"Hermine du musstest gehen und deine Eltern finden! Du hast alles dafür getan sie zu schützen. Sie sind deine Familie und die Familie ist das wichtigste!" Er berührte einen Moment lang sanft Hermines Arm. Harry zuckte bei Rons Worten zusammen. Welche Familie hatte er denn noch die er schützen könnte? Er hatte nur noch seine Freunde und die hatte er allem Anschein nach mal wieder im Stich gelassen. Es kam ihm zunehmend wie ein Fehler vor, überhaupt auf diese Feier gekommen zu sein. Wenn er es nur schaffen würde Herr über seine Beine zu werden.
Hermine liefen inzwischen Tränen die Wange herunter. Ron seufzte schwer.
"Hermine, ich wollte dir damit doch keine Vorwürfe machen", er zog sie näher zu sich, nahm sie allerdings nicht in den Arm sondern strich nur über ihren Rücken. "Ich wollte damit nur sagen", er blickte aus den Augenwinkeln zu Harry, "Das es die letzten Monate nicht einfach war, als Heldenfigur herum gereicht zu werden und andere Menschen trösten zu müssen, wenn es einem doch selbst nicht gut geht. Aber die Menschen haben das gebraucht. Sie haben uns Drei mit dem Krieg und vor allem mit dem Sieg verbunden." Ron schüttelte den Kopf als Hermine "Zu Recht!" murmelte. "Wir haben nichts gemacht, was uns zu Helden macht. Ich zumindest nicht. Es war Harry der ihn besiegt hat und ich konnte ihnen nicht einmal erklären wie." Ron löste sich wieder von Hermine und hockte sich vor Harry ins Gras. "Sie hätten dich gebraucht, Kumpel. Du bist der um den es geht. Aber da du nicht da warst haben sie auch mit mir vorliebgenommen." Seine Stimme war wieder hart und bitter. "Also krieg endlich deinen Arsch hoch und stell dich den Leuten! Du kannst dich nicht wie der letzte, verdammte Arsch aufführen wenn du ihr Held sein willst!"
"Glaubst du etwa wirklich immer noch dass ich das will?" Harrys Wut hatte ihm endlich die nötige Kraft gegeben zu Widersprechen. "Glaubst du ich will ihr Held sein? Das wollte ich nie! Ich habe nie um diese verfluchte Prophezeiung gebeten, oder darum das meine Mutter für mich gestorben ist oder all die Anderen die wegen mir tot sind! Ich bin gestorben, verflucht nochmal, reicht das nicht? Ich habe Voldemort besiegt. Ich finde jetzt kann gerne jemand Anderes den Rest übernehmen! Ich überlasse es gerne dir! Ich wollte nie ein Held sein und ich bin auch keiner!" Harry brüllte seinen Frust heraus. Seine Stimme brach, als er all die nagenden Zweifel herausschrie die ihm in den letzten Monaten auf der Seele gelegen hatten. Wenn er es recht bedachte, war es genau dieser Gedanke der ihn quälte seit dem Tag vor sieben Jahren, an dem Hagrid ihm seinen Brief gegeben hatte. 'Keiner hat es Überlebt, wenn er einmal beschlossen hat, Jemanden zu töten, keiner außer dir, und er hatte einige der besten Hexen und Zauberer der Zeit getötet und du warst nur ein Baby, aber du hast überlebt. Du bist berühmt!', hatte Hagrid gesagt, auch wenn Harry es damals noch nicht wirklich verstanden hatte. Harry hatte immer nur das getan, was getan werden musste, dass was Dumbledore für ihn geplant hatte. Er war es leid, er wollte kein Held sein.
"Aber du bist mein Held!" Ginnys weiche Stimme drang trotzig vom Zelteingang her. Harry hatte keine Ahnung wie lang sie da schon gestanden hatte, ob sie nur seine wütenden Schreie oder ob sie alles mit angehört hatte.
"Ich hab hier etwas für dich!", sagte Ginny nach einer längeren schweigsamen Pause. Sie überreichte Harry einen kleinen Silberbecher mit einem merkwürdig undefinierbaren Getränk. Harry zog fragend eine Augenbraue hoch.
"Das ist ein Trank damit es dir wieder besser geht. Vertrau mir!" Ginny lächelte ihm aufmunternd zu und er kippte das Gebräu herunter. Es schmeckte wie es aussah: beige.
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Harry Potter und die verlorene Zeit
FanficDer Krieg ist endlich vorbei, eine Zeit des Wiederaufbaus beginnt. Doch für Harry Potter, den Jungen der überlebte, starb und wieder lebt, wird es Zeit erwachsen zu werden. Und das ohne jemals eine richtige Kindheit oder Jugend gehabt zu haben. Die...