Verweilend

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Sie ist das Mädchen aus der zweiten Reihe des Nachtbusses. Oben, linke Seite, Fenstersitz. Er ist der Junge aus der vordersten Reihe des Nachtbusses. Oben, rechte Seite, ebenfalls Fenstersitz. Jede Nacht fahren sie zusammen, alleine bis auf den anderen. Sie kritzelt in ihr Notizbuch, er sieht aus dem Fenster. Er ist auf dem Weg nach Hause, sie ist auf dem Weg zur Arbeit. Jede Nacht. Sie kennen sich nicht. Doch sie bemerken. Er bemerkt ihr Kritzeln. Sie bemerkt sein Beobachten. Jahreszeiten vergehen, doch sie verweilen.

„Bist du Schriftstellerin?", fragt er. Sie antwortet nicht.

„Bist du Prostituierte?", fragt er. Sie antwortet nicht.

„Bist du Künstlerin?", fragt er. Sie antwortet nicht.

„Bist du Kellnerin?", fragt er. Sie-

„Ja. Und nein. Ja und nein und nein und ja."

Ihre Augen treffen sich dieses eine Mal. Schwarz und Blau. Schwarz und Blau. Sie könnten jetzt anfangen zu reden. Sich kennenlernen, sich mögen, sich verlieben, sich verändern. Sich verlieren. In einem anderen Leben tun sie es. In einem anderen Leben haben sie es schon getan. In einem anderen treffen sie ihren Seelenverwandten. In einem anderen sitzen sie nebeneinander, Hand in Hand. In noch einem anderen kennen sie sich von Anfang an. In einem sind sie auf dem Weg nach Hause zu den Kindern. In einem anderen Leben reden sie drei Nächte später noch einmal.

Sie bleiben still. Sie könnten sein. Doch sie verweilen. Sie ist nur das Mädchen aus der zweiten Reihe des Nachtbusses. Und er ist der Junge aus der ersten Reihe des Nachtbusses. Getrennt von nichts als zwei leeren Sitzen, und allem. Fremde, die nichts teilen als die Nacht. Nur ein Mädchen und ein Junge im Nachtbus, die in verschiedene Richtungen gehen.

Verweilend / RemainingWhere stories live. Discover now