1. Kapitel

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Erzürnt pfefferte Marietta ihre Schultasche in die Ecke und knallte die Tür hinter sich zu. „Marie, was ist los?", ertönte die Stimme ihrer Mutter aus der Küche. „Das übliche, nur Alexandra", antwortete Marietta und setzte sich an den Küchentisch. Maries Mutter seufzte und setzte sich ihrer Tochter Gegenüber. „Was hat sie diesmal angerichtet?" „Sie hat es auf meine Haare abgesehen", erwiderte Marietta und äffte Alexandras Stimme nach: „Wer hat schon ein Mädchen mit schwarz-lila Haaren gesehen. Die hast du sowieso gefärbt, gib es zu. Die können nicht natürlich sein!" Marie begann lauter zu werden: „Ich habe sie nicht gefärbt und habe es ihr auch schon tausendmal erzählt! Wieso kann dieses Mistvieh nicht für sich selbst Sorgen? Und wieso geht sie immer auf mich?" Langsam beruhigte sich Mariettas Herzschlag wieder und sie blickte ihre Mutter mit Zornesblick an. „Oh", hauchte Antje und blickte ihrer Tochter tief in die dunkelblauen Augen. „Vielleicht hat sie Probleme zu Hause und lässt sie an anderen aus, oder sie hat Stress. Mach dir nichts draus, Ok Mäuschen?", fragte Antje zärtlich und strich ihrer Tochter eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Marie nickte und sagte: „Du hast Recht, ich werde mich nicht mehr unterkriegen lassen!" Antje schmunzelte. „Das ist die Marietta, die ich kenne!" Dann ging sie in die Küche und bereitete das Abendessen vor, jedoch nicht, bevor sie ihrer Tochter einen stolzen Blick zugeworfen hatte.

Marie blieb allein am Küchentisch sitzen und dachte nach. Hat Mutter Recht? Hat Alexandra wirklich Probleme? Ich weiss gar nicht mehr, wie es so weit kommen konnte. Früher waren wir beste Freundinnen gewesen, doch seit mein Vater verschollen ist, hat sich Alexandra von mir abgewendet und ist zum beliebtesten Mädchen der Klasse geworden. Sie hat mich links liegen gelassen. Nun sind wir Erzfeinde und ich hänge nur noch mit Helen und Nikolija ab. „Marie, würdest du bitte Alex holen. Das Essen ist fertig", riss Antje Marietta aus ihren Gedanken. Marie nickte, bis sie realisierte, dass ihre Mutter das nicht sehen konnte. Deshalb murmelte sie eine unverständliche Antwort und stieg die steile Treppe hoch. Wie in allen Häusern Amsterdams, war es im Treppenhaus dunkel und eng, doch Marie hatte sich daran gewöhnt.
Ohne das Schild, auf dem:
Achtung, lebender Gepard, Betreten auf eigene Gefahr

stand, auch nur eines Blickes zu würdigen, trat sie ein. Der Boden war übersäht mit Legos, der Schrank sah aus wie ein Lego und auch das Bett sah aus, wie mit Legos gebaut.
Mitten in diesem Durcheinander sass ihr kleiner Bruder Alexander, spielte mit seinen Legos und beachtete Marietta nicht weiter.
„Alex, das Essen ist fertig", keine Antwort. „Alex", wiederholte Marie irritiert, ihre Stimme schon etwas lauter, doch ihr Bruder spielte weiter. „Alexander!", schrie Marietta. Schliesslich schaute ihr Bruder hoch und meinte höhnisch: „Du musst nicht gleich schreien, ich habe auch Ohren." Nun war es Marie endgültig zu viel. Doch sie beherrschte sich, drehte sich um und stieg die Treppe hinunter.
Schweigend ass die Familie zu Abend und machte sich bettfertig.

An diesem Abend konnte Marietta lange nicht einschlafen, die Sache mit Alexandra beschäftigte sie zu sehr. Wenn sie wüsste, mit wem sie es zu tun hat, würde sie nicht so mit mir reden. Aber ich weiss es ja selbst nicht genau. Was, wenn ich die Kontrolle verliere und sie durch einen Unfall verbrennt? Ich mag sie nicht, aber wenn ihre Haare brennen würden, ginge es zu weit. Ich muss mir über meine Kräfte klar werden, sonst bringe ich alle in meiner Umgebung in Gefahr. Ach Vater, wärst du doch nur bei mir. Ich könnte deine Hilfe gut brauchen.
Mariettas Vater war vor vier Jahren bei einer Expedition in Schweden auf mysteriöse Weise verschollen, weshalb ihn alle für tot hielten. Am Tag seiner Abreise, hatte er Marietta zugeflüstert, dass sie aufpassen solle, wie sie ihre Kräfte benütze. Er würde es ihr gerne erklären, doch das könne er nicht. Marietta hatte nicht verstanden. Als sie ihn fragte, was für Kräfte er meine und wieso er es ihr nicht sagen könne, hatte er gelächelt und geantwortet: „Du kannst andere in schreckliche Gefahr bringen mit deiner Gabe, aber sie kann auch grosses Unrecht vermeiden. Gehe sorgfältig mit ihr um." Die damals siebenjährige Marietta hatte ihren Vater mit grossen Augen angeschaut und gefragt: „Wieso sagst du mir das jetzt, Vater?" Er sah ihr deutlich in die grossen blauen Augen und antwortete mit einer Spur Trauer in seiner Stimme: „Weil ich vielleicht nicht mehr zurückkomme, mein Marienkäfer. Die Zeit wird kommen, in der du verstehen wirst. Doch bis dahin sollst du glücklich leben, denn die Dunkelheit lauert in jeder Ecke und saugt das Glück aus wie eine Laus." Die kleine Marietta hatte Angst. Das war nicht ihr Vater, wie sie ihn kannte. Sie schaute ihn an und versuchte, diese tiefgrünen Augen zu ergründen.

Ach Vater, wieso hast du Recht behalten? , fragte Marietta in die Stille und blinzelte traurig die Tränen weg. Wieso hattest du Recht? Meine Gabe ist wie ein Fluch, ich habe die gute Seite noch nicht gefunden. Wieso ist im Leben alles so schlecht? Wieso kann ich nicht ein normales Mädchen sein, das keine Angst haben muss, dass die Person vor ihm brennende Haare bekommt, wenn es wütend ist. Wieso ich?
Wieso...

Marietta unterdrückte ein Gähnen und bemühte sich, ihrer Lehrerin einen möglichst aufmerksamen Blick zuzuwerfen. Gestern hatte sie einen höchst seltsamen Traum gehabt: Am Anfang waren ihre Träume wirr und belanglos wie immer. Doch auf einmal schwebte sie in einer dunkelblau pulsierenden Substanz, welche Strudel bildete, wie dunkles Wasser. Die Substanz war jedoch dickflüssiger und auch unheimlicher, als das Wasser der Kanäle. Sie beugte sich vor und betrachtete ihre Hände, sie leuchteten schwach. Plötzlich erschien vor ihr ein grün-blau gestreifter Fisch. Er öffnete seinen Mund und blubberte: „Komm zu uns! Komm zu den Kanali..." Diesen Satz wiederholte er immer wieder, bis eine grosse, dunkle, unförmige Gestalt aus dem Nichts kam und ihn verschlang. Dann drehte diese sich zu Marietta um, sperrte ihr Maul auf und entblösste eine Reihe spitzer weisser Zähne. Anschliessend wurde alles schwarz.

„Marietta?", die Stimme ihrer Lehrerin riss sie aus ihren Erinnerungen. Sie sah Frau Lésinare an und fragte: „Ja?" „Kannst du mir bitte die Lösung von Aufgabe drei sagen?" Frau Lésinare verzog den Mund zu einem spöttischen Grinsen. „7.8356", flüsterte eine Stimme links von Marie. Augenblicklich gab sie die Lösung mit einem süssen Lächeln weiter und ergötzte sich am verdutzten Gesicht ihrer Lehrerin.
Es klopfte energisch. Frau Lésinare zuckte zusammen, als die Tür ruckartig aufflog, mit einem Knall gegen die Wand krachte und der Schuldirektor höchstpersönlich eintrat. Wie immer trug er ein braunes Jackett und ein blau kariertes Hemd. Hinter ihm stand eine Person, doch ihr Gesicht lag im Schatten. Schlagartig legte sich Stille über das Zimmer. Herr van Detrefe räusperte sich und sprach mit seiner energischen, ausdrucksvollen Stimme: „Ich bin hier um euch einen neuen Schüler vorzustellen: Ian van Braaten!" Die Gestalt trat aus dem Schatten. Der Junge, Ian, hatte dunkelblonde Haare und tiefblaue Augen. Sein Gesicht war mit Sommersprossen gesprenkelt und auf seinen Lippen lag ein Lächeln. Er trug eine ausgeleierte Jeans und ein grünes Sweatshirt. Mit schlurfenden Schritten lief er zum Platz neben Marie, deren Herz gleich schneller schlug. „Hey", begrüsste sie schüchtern den Neuankömmling, „ich bin Marietta, du kannst mich aber ruhig Marie nennen!" Er blickte sie an. „Danke Marie, es ist immer schwer sich einzuleben." Leider wurde ihr Gespräch von Frau Lésinare unterbrochen: „Wenn ihr euch jetzt bitte wieder Seite 17 zuwenden könntet." Seufzend rechnete die Klasse weiter, das heisst, alle ausser Alexandra. Diese blickte Marietta mit hasserfüllten Augen an und dachte: Na warte Blomendaal, wenn du mir Ian wegschnappst, verarbeite ich dich zu Hackfleisch!

Nach der Schule ging Marie gedankenversunken nach Hause. Als ihr plötzlich jemand auf die Schulter tippte, drehte sie sich erschrocken um und blickte in Ians blaue Augen. Sie blinzelte, einen Moment lang sah es so aus, als würden kleine Strudel in seinen Augen wirbeln. „Ich wollte mich nur bei dir bedanken, dass du mir in der Mathestunde geholfen hast. Das war wirklich nett von dir." „Bitte, mach ich doch gerne!", antwortete Marie eine Spur zu schnell, „Wenn du willst, kann ich dir öfter helfen." „Das würdest du für mich tun?", fragte Ian skeptisch. „Klar!", rief Marie aus, „Schliesslich bin ich nicht so herzlos wie Alexandra." Ian lachte, dabei brach sich das Sonnenlicht in seinen Augen und sie funkelten listig. „Du hast recht, sie ist wirklich fies. Aber...wieso geht sie immer auf dich los?" Marietta schwieg und blickte betreten zu Boden. „Sie ist so, seit ich sie kenne", murmelte sie schliesslich „Oh", flüsterte Ian, „ich dachte, sie wolle mich einfach nur beeindrucken." Marie schluckte, dieses Gespräch lief eindeutig in die falsche Richtung! Schweigend gingen sie nebeneinander her. Plötzlich blieb Ian stehen, wandte sich zu Marie und erklärte: „Ich wohne hier." „Oh", hauchte Marietta enttäuscht, „ dann sehen wir uns morgen in der Schule." Sie lächelte ihn an und wartete, bis sich die Tür hinter ihm schloss.

Als sie zu Hause ankam (sie war den ganzen Weg gerannt), rief sie sofort ihre beste Freundin Nikolija an. „Bet Rallye, jetzt!", keuchte sie atemlos in den Hörer, „Es ist so weit."

unter Amsterdams KanälenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt