Prolog

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Schon seltsam, woran man festhält, was einem im Gedächtnis bleibt, wenn alles endet. Ich kann immer noch die Wandverkleidung unserer Kabine vor mir sehen und weiß genau, wie weich der Teppich war. Ich erinnere mich an den Geruch von Salzwasser, der die Luft durchdrang und meine Haut benetzte, und an das Gelächter meines Bruders im Raum nebenan - als wäre der Sturm für ihn ein aufregendes Abenteuer, kein Albtraum.
Statt Angst oder Sorge lag eher Verärgerung in der Luft. Der Sturm machte unsere Pläne zunichte; heute Abend würde es keinen Ball an Deck geben, und das hieß, ich würde mein neues Kleid nicht präsentieren können. Das waren die Probleme, die mich zu jener Zeit plagten; so unerheblich, dass es rückblickend regelrecht peinlich war. Aber das alles war mein "Es war einmal..." , damals fühlte sich mein Leben noch so wundervoll an wie im Märchen.
"Wenn diese Schaukelei nicht bald aufhört, kann ich mich vor dem Essen nicht mehr frisieren", schimpfte Mama. Ich spähte vom Boden aus,wo ich zusammengekauert hockte, zu ihr hoch und versuchte, mich nicht zu übergeben. Mamas Erscheinung erinnerte mich an ein Filmplakat, und ihre im Stil der 20er Jahre gewellten Haare sahen perfekt aus. Aber sie war nie zufrieden. "Du solltest wirklich aufstehen", fuhr sie mit einem strengen Blick in meine Richtung fort. "Was, wenn ein Bediensteter hereinkommt?"
Ich gehorchte - wie immer - ohne Widerworte und schleppte mich zu einer Chaiselongue, obwohl diese neue Position wohl auch nicht damenhaft war. Ich schloss die Augen und betete, dass die See sich endlich beruhigen würde. Ich wollte mich nicht übergeben. Bis zu diesem letzten Tag war unsere Reise der Inbegriff von gewöhnlich gewesen; nur ein Familienausflug von A nach B. Ich weiß nicht einmal mehr, wo wir hinwollten. Aber ich erinnere mich, dass wir wie üblich mit Stil reisten. Wir waren einer der wenigen Familien, die den Börsencrash überstanden und ihr gesamtes Vermögen behalten hatten - und Mama sorgte gerne dafür, dass alle es wussten. Deshalb waren wir in einer wunderschönen Suite mit großen Fenstern untergebracht, und persönliche Bedienstete standen uns jederzeit zur Verfügung. Ich spielte mit dem Gedanken, nach einem zu klingen und um einen Eimer zu bitten.
Doch da, umnebelt vom trüben Dunst der Übelkeit, hörte ich plötzlich etwas; fast wie ein Schlaflied aus weiter Ferne. Es machte mich neugierig und seltsamerweise auch irgendwie durstig. Ich hob meinen benommenen Kopf und sah, wie auch Mama auf der Suche nach dem Ursprung des Geräuschs zum Fenster schaute. Für einen Moment trafen sich unsere Blicke - wir brauchten beide die Bestätigung, dass wir es beide hörten, wandten wir uns wieder dem Fenster zu und lauschten. Die Musik war berauschend schön, wie ein Kirchenlied für die Gläubigen.
Papa streckte den Kopf zur Tür herein, am Hals ein frisches Pflaster, wo er sich beim Versuch, sich trotz des Sturms zu rasieren, geschnitten hatte. "Ist das die Band?", fragte er. Er klang ruhig, aber der fieberhafte Ausdruck in seinen Augen war verstörend.
"Vielleicht. Klingt, als würde es von draußen kommen, meint ihr nicht?" Mama  war plötzlich ganz außer Atem vor Aufregung. "Sehen wir nach!", rief sie, sprang auf und schnappte sich ihren Pullover.
Ich war schockiert. Sie hasste es, in den Regen hinauszumüssen.
"Aber Mama, dein Make-up. Du hast doch gerade gesagt..."
"Ach das", winkte sie ab und zog sich einen elfenbeinfarbenen Cardigan über. "Wir sind doch nicht lange weg. Ich habe später noch genug Zeit,mich zu frisieren."
"Ich glaube, ich bleibe lieber hier." Die Musikzog mich genauso an wie alle anderen, aber der kalte Schweiß auf meiner Stirn erinnerte mich daran, wie kurz ich davor war, mich zu übergeben. In meinem Zustand das Zimmer zu verlassen war bestimmt keine gute Idee, also kauerte ich mich nur noch mehr zusammen und widerstand dem Drang, der Musik zu folgen.
Mama drehte sich zu mir um und begegnete meinem Blick. "Ich würde mich besser fühlen, wenn du bei uns wärst", sagte sie lächelnd.
Das war das Letzte, was meine Mutter je zu mir sagte. Noch während ich den Mund öffnete, um etwas zu erwidern, stand ich auf und ging ihr nach. Das tat ich nicht nur, um ihr zu gehorchen. Ich musste an Deck. Ich musste näher zu diesem Gesang. Wäre ich in unserer Kabine geblieben, hätte ich vermutlich in der Falle gesessen und wäre mit dem Schiff untergegangen. Dann hätte ich mich meiner Familie angeschlossen. Im Himmel oder in der Hölle - oder nirgends, wenn doch alles eine Lüge war. Doch so kam es nicht.
Wir gingen die Treppe hinauf, und auf dem Weg stießen immer mehr und mehr Leute zu uns. Da wurde mir klar, dass etwas ganz und gar nicht stimmte. Manche der Passagiere kämpften sich durch die Massen, als wollten sie um jeden Preis als Erste da sein, anderen sahen aus, als würden sie schlafwandeln.
Ich lief hinaus in den strömenden Regen, blieb aber abrupt stehen, als ich sah, was mich draußen erwartete. Die Hände fest auf die Ohren gepresst, um den krachenden Donner und die hypnotische Musik, auszusperren, versuchte ich, mich zu orientieren. Zwei Männer hasteten an mir vorbei und sprangen, ohne auch nur eine Sekunde innezuhalten, über Bord. Der Sturm war doch nicht so schlimm, dass wir das Schiff verlassen mussten, oder?
Ich schaute zu meinem kleinen Bruder und sah, wie er gierig den Regen aufleckte -  wie eine Raubkatze rohes Fleisch hinunterschlingt. Als jemand in seiner Nähe es ihm gleichtun wollte, gab es Streit, und im nächsten Moment kämpften sie um die Tropfen. Ich wich zurück  und hielt nach meinem mittleren Bruder Ausschau. Als ich ihn entdeckte, war es bereits zu spät. Er rannte auf die Reling zu und war fort, ehe ich auch nur begriff, was geschah.
Dann sah ich meine Eltern Hand in Hand an der Reling stehen - sie ließen sich einfach rückwärts über Bord fallen. Dabei lächelten sie. Ich schrie.
Was ging hier vor? War die ganze Welt dem Wahnsinn verfallen?
Ein Ton drang tief in mein Bewusstsein, und ich ließ die Hände sinken, meine Sorgen und Ängste schon fast vergessen, als das Lied von meinen Gedanken Besitz ergriff. Es schien tatsächlich besser, sich in die Fluten zu stürzen, sich von den Wellen umfangen zu lassen, als im prasselnden Regen zu stehen. Das Wasser war sicher köstlich. Ich musste meinen Bauch, mein Herz und meine Lungen damit füllen.
Von diesem einzigen pulsierenden Verlangen ergriffen, ging ich auf die Reling zu. Es würde ein phantastisches Gefühl sein zu trinken, bis mein Durst endgültig gelöscht war. Ich nahm kaum wahr, wie ich über das Geländer kletterte - nichts nahm ich richtig wahr, bis mir das Wasser ins Gesicht schlug und mich mit einem Ruck aus meiner Trance riss.
Ich würde sterben.
Nein!, schoss es mir durch den Kopf, während ich verzweifelt versuchte, mich zurück an die Oberfläche zu kämpfen. Neunzehn Jahre waren nicht genug. Es gab noch so viel Essen, das ich probieren wollte, so viele Orte, die ich noch bereisen wollte. Die große Liebe - hoffentlich - und eine eigenen Familie. Und jetzt wurde mir das alles im Bruchteil einer Sekunde genommen.
Ist es das, was du willst?
Mir blieb keine Zeit zu überlegen, ob die Stimme, die ich hörte, echt war. Ja!
Was würdest du geben, um am Leben zu bleiben?
Alles!
Im nächsten Augenblick wurde ich aus den tosenden FLuten herausgerissen. Als würde sich ein Arm um meine Taille schlingen und mich zwischen den im Wasser treibenden Körpern hindurchziehen, bis ich frei war. Bald fand ich mich auf dem Rücken liegend wieder und starrte hoch zu drei unmenschlich schönen Mädchen.
Einen Moment schwanden meine Verwirrung und das ganze Grauen dahin. Es gab keinen Sturm, keine Familie, keine Angst. Alles, was es ja gegeben hatte und je geben würde, waren diese drei wunderschönen Gesichter. Ich musterte sie mit zusammengekniffenen Augen und sprach die einzige Vermutung aus, die mir möglich schien.
"Seid ihr Engel?", fragte ich. "Bin ich tot?"
Das Mädchen, das mir am nächsten stand, mit Augen so grün wie die Smaragde in Mamas Ohrringen und leuchtend roten Haaren, die ihr Gesicht umwogten, beugte sich zu mir herunter. "Aber nein, du lebst", versicherte sie mir. Sie sprach mit einem melodischen britischen Akzent.
Ich starrte sie mit großen Augen an. Wenn ich lebte, müsste mein Hals dann nicht kratzen von dem vielen Salzwasser, das ich geschluckt hatte? Müssten meine Augen nicht brennen? Müsste ich nicht immer noch diesen stechenden Schmerz spüren, wo ich mit dem Gesicht im Wasser aufgeschlagen war? Doch ich fühlte mich wundervoll. Entweder träumte ich, oder ich war tot. Anders konnte es nicht sein.
In der Ferne hörte ich Schreie. Ich hob den Kopf und sah das Heck unseres Schiffes wie eine Fata Morgana aus den Wellen ragen.
Ich holte ein paarmal hastig Luft - wie war es möglich, dass ich überhaupt noch atmete? -, während ich den Schreien der Ertrinkenden überall um mich herum lauschte.
"Woran erinnerst du dich?", fragte das rothaarige Mädchen.
Ich schüttelte den Kopf. "An den Teppich." Ich suchte in meinen Erinnerungen, die bereits zu verblassen begannen. "Und an die Haare meiner Mutter." Meine Stimme stockte. "Dann war ich plötzlich im Wasser."
"Hast du darum gebeten, weiterzuleben?"
"Ja!", platzte ich heraus. Hatte sie meine Gedanken gelesen? "Wer seid ihr?"
"Ich bin Marilyn", antwortete sie fröhlich. "Das ist Amy."  Sie deutete auf ein blondes Mädchen, das mir ein kleines, warmes Lächeln schenkte. "Und das ist Naomi." Naomi war so dunkel wie der Nachthimmel und schien fast keine Haare zu haben.
"Wir sind Sängerinnen. Sirenen. Dienerinnen der See", erklärte Marilyn. "Wir helfen Ihr. Wir ... nähren SIe."
Ich blinzelte sie verständnislos an. "Wovon sollte sich die See ernähren?
Marilyn schaute zu dem sinkenden Schiff, und ich folgte ihrem Blick. Die Schreie waren fast vollständig verstummt.
Oh.
"Es ist unsere Pflicht, und bald wird es auch die deine sein. Wenn du Ihr deine Zeit widmest, schenkt Sie dir das Leben. Die nächsten hundert Jahre wirst du weder krank noch verletzt werden, und du wirst keinen Tag altern. Wenn du deine Zeit abgeleistet hast, bekommst du deine Stimme und deine Freiheit zurück. Du bekommst dein Leben zurück."
"Entschuldigt, aber...", stammelte ich, "aber das verstehe ich nicht."
Die anderen beiden Mädchen lächelten, doch ihr Blick war traurig. "Nein. Das kannst du jetzt auch noch nicht verstehen." Marilyn strich mir über meine triefnassen Haare, als würde ich bereits zu ihnen gehören. "Ich versichere dir, das hat keine von uns. Aber du wirst es verstehen."
Vorsichtig richtete ich mich auf und stellte schockiert fest, dass ich auf dem Wasser stand. In der Ferne kämpften immer noch ein paar Leute gegen die Strömung um ihr Leben, als hätten sie noch Hoffnung, gerettet zu werden.
"Bitte, meine Mutter ist hier!", flehte ich. Naomi seufzte und sah mich mit einem wehmütigen Ausdruck in den Augen an.
Marilyn schlang einen Arm um mich und flüsterte mit einem Blick in Richtung des Wracks: "Du hast zwei Möglichkeiten: Entweder du bleibst hier bei uns, oder du stirbst mit ihr. Retten kannst du sie nicht."
Ich schwieg, tief in Gedanken versunken. Sagte sie die Wahrheit? Könnte ich mich dafür entscheiden zu sterben?
"Du hast gesagt, du würdest alles geben, um zu leben", erinnerte sie mich. "Bitte meine es auch so."
Ich sah die Hoffnung in ihren Augen. Sie wollte nicht, dass ich ging. Vielleicht hatte sie schon genug Menschen sterben sehen.
Schließlich nickte ich. Ich würde bleiben.
Sie schloss mich in die Arme und hauchte mir ins Ohr: "Willkommen in der Schwesternschaft der Sirenen."
Plötzlich war ich wieder unter Wasser, und etwas Kaltes wurde in meine Adern gespült. Doch obwohl es mir Angst machte, tat es kaum weh.







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⏰ Last updated: Feb 13, 2018 ⏰

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