Es war ein stinknormaler Tag, als ich müde, lustlos und träge zur Schule lief, wie immer. Ich würde bestimmt wieder zu spät kommen, wie immer eben. Ich konnte regelrecht schon die Stimme meiner Lehrerin hören, die in einem herablassendem Ton "Josh? Nur fünf Minuten zu spät? Glanzleistung!", murrte. Ich hasste diese Frau, aber noch mehr hasste ich die Schule. Es war sowieso unnötig für mich dort hinzugehen, denn ich wusste schon, was ich werden wollte: Künstler.
Ich stolperte die paar Stufen zu meinem Raum hoch und klopfte an die Tür. Nachdem meine Lehrerin mit ihrer ekelhaften Stimme "Herein!" krächzte, trat ich ein und lief mit gesenktem Kopf zu meinem Platz. Ein dummer Kommentar wurde dieses Mal sogar nicht gebracht, wow. Ich stellte meine Tasche neben mir ab und musste mal wieder feststellen, dass meine Flasche ausgelaufen war. Genervt drehte ich mich zu meinem Sitznachbar Phil um. "Hast du mal 'n Taschentuch? Oder vielleicht zwei Packungen?", er schüttelte wie immer lachend den Kopf und kramte das von mir angeforderte Material hervor. Es gab eine Sache, die war so sicher, wie das Amen in der Kirche: Egal, was man brauchte, Phil hatte es fast immer dabei. Jedenfalls, wenn es nicht zu ausgefallene Sachen waren. Als ich einmal meine Sportschuhe vergessen hatte, war es ja klar, dass er kein Paar für mich dabei hatte, alles andere wäre gruselig gewesen.
Nachdem ich fertig war meinen kompletten Ranzen mit Taschentüchern von innen zu tapezieren, widmete ich mich dem Unterricht. Was könnte schlimmer sein als eine Doppelstunde Deutsch in den ersten beiden Stunden? Ich seufzte, legte meinen Kopf auf dem Tisch ab und ließ meinen Blick durch die Klasse wandern. Ein paar überschminkte Mädchen, zwei Streberinnen, einen Punk und eine Horde Jungs, die sich für nichts anderes als Alkohol und jegliches anderes Suchtmittel interessierten. Dann schließlich war mein Blick ganz rechts von mir angekommen, bei Phil. Er war groß, sportlich und hatte eine winzige Stupsnase. Sein dunkelbraunes Haar harmonierte perfekt mit seinen olivgrünen Augen. Dazu kam noch, dass er wirklich ein netter und zuvorkommender Junge war. Wenn ich ehrlich war, war er meine einzige Motivation, um in die Schule zu gehen.
Nach der neunzig Minuten langen Tortur, spazierte ich langsam auf den Schulhof. "Kommst du noch kurz mit ein Croissant kaufen?", fragte Phil, "Ich brauch auch nicht lange." So war es jede Pause. Ich wusste nicht woher er das Geld nahm, aber Phil hatte immer 80 Cent übrig um sich ein pappiges, altes Croissant vom Kiosk zu holen. Ich konnte überhaupt nicht nachvollziehen, wie er das Zeug essen konnte, allein bei dem Gedanken daran drehte sich mir der Magen um. Als er endlich wieder kam, glücklich über seine ekelerregende Beute, lächelte er mich an und gab mir einen Wink zum Weiterlaufen. Wir durchquerten das Schulgebäude, bis wir auf dem Schulhof angekommen waren. Wir verkrochen uns an unseren Stammplatz: Eine alte Linde mit einem Stein darunter, auf den wir uns meistens drauf hockten. Wenn es eins gab, was Phil und ich auf den Tod nicht leiden konnten, dann waren es die anderen Schüler. Zwar waren nicht alle schlimm, aber den Lautstärkepegel, den alle gemeinsam verursachten hing uns echt zum Hals raus. Ich will damit nicht sagen, dass wir besser wären, aber irgendetwas schnitt uns von der Masse ab. Ich legte den Kopf in den Nacken und starrte in den Himmel. "Und? Ist der graue Himmel spannend?", fragte Phil, den Blick nun ebenfalls in die Wolken vertieft. "Spannender als Unterricht."
Die Pause ging mal wieder rasend schnell zu Ende, wie immer, wenn ich bei Phil war. Ich weiß nicht, woran es lag, aber bei ihm war meine Zeitwahrnehmung immer fürchterlich seltsam. Wenn er mich ansah hatte ich das Gefühl, als wären es Stunden, aber wenn wir was zusammen machten flog die Zeit geradewegs an mir vorbei. Den restlichen Schultag nahm ich irgendwie gar nicht wirklich wahr. Anstatt mich am Unterricht zu beteiligen, zappelte ich mit den Beinen und ritzte mit meinem Zirkel Dreiecke in den Tisch. Phil hatte mich schon oft deshalb angemotzt, dass ich es sein lassen sollte, aber irgendwann hatte er es aufgegeben mich zurecht zu weisen. Eine manchmal positive, aber auch negative Sache an mir war, dass ich immer meinen Dickkopf durchsetzen musste. Dafür wurde mir zwar teilweise Respekt und Bewunderung, aber auch Ablehnung gezeigt. Ich erinnerte mich noch daran, als ich in der sechsten Klasse bei einem Gruppenprojekt so lange einen Aufstand gemacht hatte, bis mir Sophie, eine damalige Klassenkameradin, meine Karteikarten schrieb und meine Arbeit erledigte. Bei dem Gedanken daran musste ich grinsen, ganz so sehr würde ich heute natürlich nicht mehr rum quengeln. Die ganze Pubertät hatte mich sowieso komplett verändert. Während ich früher allen gefallen wollte, hatte ich gelernt mich auf mich selbst zu fokussieren und keinen Wert auf die Meinung anderer zu legen. Besser gesagt auf die zu scheißen, die auch auf mich schissen. Das galt natürlich nicht für gute Freunde und Familie, da versuchte ich natürlich immer mein Bestes zu geben.
Ich hörte den schrillen Gong läuten und zuckte kurz zusammen. Endlich konnte ich nach Hause! Mit ein paar Griffen verstaute ich meinen ganzen Kram in meinem Rucksack. Ob die Materialien verknickten war mir egal, das ganze Zeug sah eh schon abgenutzt aus. "Deine Bücher sehen schon schlimm genug aus, pass doch auf!", zischte Miriam, eine pummelige kleine Brillenträgerin. "Manche würden es Vintage nennen.", entgegnete ich und lief aus dem Raum. Phil folgte mir und gemeinsam gingen wir in Richtung Bushaltestelle, wo wir auf den alten, verwahrlosten Bus warteten, in dem die Heizung um jede Jahreszeit auf Höchststufe lief.
Mit einem lauten Schnaufen bremste der Bus ab und öffnete seine Türen. "Ticket?", blaffte der Busfahrer mich an, der genauso heruntergekommen wie sein Fahrzeug schien. Ich schüttelte den Kopf. Er seufzte und vermittelte mir mit einer Handbewegung, dass ich durchgehen sollte. Das ging jetzt schon fast drei Monate so. Irgendwo hatte ich sie zu Hause hingelegt, nur konnte ich mich nicht mehr erinnern wo. Ich schmiss mich auf einen Doppelsitz, rückte ans Fenster und wartete auf Phil, bis dieser schließlich neben mir saß. "Ich hab so Hunger", seufzte er und sah sehnsüchtig aus dem Fenster. "Ich hoffe es gibt heute was, was mir schmeckt." Ich sah ihn lachend an:"Dir schmeckt doch sowieso alles! Allein, dass dir die Croissants vom Kiosk schmecken beweist doch schon alles!" Der Bus setzte sich in Bewegung und machte dabei ein paar Geräusche, die ein Bus eigentlich nicht machen sollten. Es klang fast, als würde er in jeder Sekunde zusammen brechen, aber das war noch nie passiert. "Was machst du heute noch, Josh?" Ich kniff, die Augen zusammen und überlegte. "Keine Ahnung, vielleicht schau ich meine Serie weiter oder mach' das angefangene Bild fertig." Phils Augen weiteten sich:"Das Bild! Und wenn du fertig bist, dann zeigst du's mir, okay? Oder schick' mir ein Bild!" Ich musste lächeln. Es tat gut zu wissen, dass es jemanden außer mir gab, der sich dafür interessierte. Meine Eltern fanden das, was ich immer fabrizierte zwar auch nicht schlecht, aber irgendwie freute es mich bei Phil viel mehr. Es fühlte sich an wie eine Bestätigung und das war das, was mich oft antrieb meine angefangen Werke zu Ende zu bringen, oder neue anzufangen. "Kann ich gerne tun.", lächelte ich und stand auf, "Wir sind da."