Primrue Mellark | Kapitel 21

1.8K 148 3
                                    

Jetzt, wo ich beschlossen hatte doch noch ein wenig zu leben, merkte ich erst, in was für einer schlechten Verfassung ich wirklich war. Eigentlich war es faszinierend, dass ich überhaupt noch lebte.
An bewegen war am Anfang gar nicht zu denken.
Gerade hatte ich noch Dillian ein Lächeln als Antwort auf seine Frage geschenkt, und in der nächsten sank ich auch schon wieder stöhnend zurück auf den Boden.
War der schon die ganze Zeit so kalt gewesen?
"Dillian", ich erschrak, als ich hörte wie brüchig und schwach meine Stimme klang.
Er war neben mir, ohne das ich gehört hätte wie er aufgestanden war.
"Ich bin hier, Primrue.", flüsterte er leise und strich mir die Haare aus dem Gesicht.
Langsam hob er mich auf und brachte mich weiter ins innere der Höhle, wo immer noch ein Feuer brannte. Er legte mich auf den Schlafsack und in dem Moment fühlte es sich wie das weichste Lager der Welt an. Die Wärme des Feuers drang in meinen Körper ein und ich seufzte genüsslich auf.
"Noch wach?". fragte Dillian vorsichtig. Ich nickte leicht ohne die Augen zu öffnen. "Okay", fuhr er fort. " Wir sollten uns erst mal um dein Gesicht kümmern, dass sieht nicht wirklich gut aus."
"Danke für das Kompliment", kicherte ich leise.
Die Wärme versetzte mich in Hochstimmung.
Zumindest konnte man es so bezeichnen, wenn man bedachte wie ich die letzten Tage verbracht hatte.
Ich spürte regelrecht, dass auch Dillian lächelte.
"Du weißt wie ich das meine. Um die Schnittwunde zu nähen ist es zu spät, aber ich kann versuchen, die Entzündung rauszubekommen, damit die Narbe nicht noch schlimmer wird."
Ich lebe nicht mehr lange genug um noch eine Narbe zu bekommen, dachte ich mir insgeheim. Ich stimmte ihm leise zu. Es schien ihm zu reichen, denn er sprach weiter: "Tut mir Leid, wenn es wehtut."
Es tat weh aber ich unterdrückte jedes Geräusch, biss die Zähne aufeinander und krallte mich in den Schlafsack.
Keine Ahnung, wie lange er versuchte mein Gesicht wieder einigermaßen in Ordnung zu bringen, aber ich war froh als er endlich von mir abließ. Natürlich tat er es nur um nach der anderen Wunde zu fassen.
Dieses mal konnte ich ein schmerzhaftes Stöhnen nicht unterdrücken und er ließ sofort los.
"Entschuldige", stammelte Dillian.
Ich öffnete langsam ein Auge und sah einen geknickten Ausdruck auf seinen Gesicht.
Hatte er Schuldgefühle?
"Schon gut.", beruhigte ich ihn und er fuhr in normalen Tonfall fort. "Von außen sieht die Kopfwunde nicht so schlimm aus, wie der Schnitt aber ich hab keine Ahnung ob drinnen was kaputt ist. Wie geht es dir?"
"Gut", antwortete ich knapp und fügte in Gedanken hinzu: Bis auf die Kopfschmerzen, die Übelkeit und ach ja, das meine Sicht immer verschwimmt ist glaub ich auch nicht richtig.
Warum ihm mehr Sorgen machen als nötig?
"Wie hast du die Verletzungen eigentlich bekommen. Hat dieser...Mutant dich eingeholt?", fragte er vorsichtig.
Ich seufzte.
"Nein, ein anderer ist aufgetaucht."
"Noch ein Finnick?"
Seine Augen hafteten regelrecht an mich, als ich langsam nur den Kopf schüttelte. Mein Gesichtsausdruck musste alles weitere erklären denn er gab nur ein "Oh" von sich.
Er wurde von einen weiteren Hilfspaket für uns gerettet.
Fast musste ich lachen darüber wie schnell er aufsprang und wieder zum Höhleneingang ging, um es aufzuheben.
Grinsend kam er zurück und ich wurde neugierig was er da hatte.
"Von Cato, für dich"
Er öffnete die Dose und ein wundervoller Geruch strömte heraus.
Suppe.
Cato hatte mir Suppe geschickt.
Ich denke das war seine Art zusagen: "Und jetzt wieder auf die Beine. Hopp hopp."
Mir lief das Wasser im Mund zusammen und mein Magen knurrte.
Als Dillian mir das Essen reichte, wollte ich es am liebsten einfach herunterstürzen, aber er hielt mich auf.
"Langsam. Du hast seit vier Tagen nichts zu dir genommen und das davor hast du erbrochen. Dein Magen ist das nicht mehr gewöhnt."
Ich hörte auf ihn und schlürfte nur kleine Schlucke. Viel vertrug mein Magen nicht, aber nachdem ich die Hälfte gegessen hatte, trank ich noch Wasser und nahm auch die Tabletten, die mir Dillian hinhielt. 
"Schlaf jetzt", verlangte er von mir und ich schüttelte den Kopf.
"Geht nicht.", erwiderte ich. Er wollte gerade zu etwas ansetzten als ich schnell ergänzte: "Jedes mal wenn ich die Augen schließe sehe ich Haymitch."
Was immer Dillian sagen wollte, es schien ihm im Hals stecken zu bleiben. Verlegen schaute er zu Boden bevor er leise flüsterte, ohne mich anzusehen: "Das mit Haymitch tut mir Leid. Ich...ich war nicht schnell genug. Ich dachte wir hätten alle erwischt."
"Es war nicht deine Schuld!", warf ich dazwischen, doch er schien mich nicht einmal zu hören, sondern gab weiter sich die Schuld.
"Doch. Es war meine. Ich hätte besser aufpassen sollen. Schließlich hatte ich es dir versprochen. Du hast mir vertraut und ich hab es nicht geschafft. Ich hätte schneller -"
Ich brach seine Hasstirade auf sich selbst ab, indem ich ihn küsste.
Warum ich das tat wusste ich nicht.
Mir tat es leid, wie er sich selbst beschuldigte. Ich wollte, dass er aufhörte. Darüber nachgedacht hatte ich nicht, nur reagiert.
Im ersten Moment war er nur erstaunt. Tat nichts.
Gerade als ich mir Sorgen machte, dass ich komplett falsch reagiert hatte und es gleich richtig peinlich werden würde, umschlangen seine Arme mich und zogen mich näher an ihn.
Endlich erwiderte er den Kuss.
Ich hatte das noch nie zuvor gemacht.
Kein Junge war je interessiert an mir gewesen. Sie hatten entweder Angst vor mir oder hielten mich einfach für einen Freak. Aber hier und jetzt, in Dillians Armen, fühlte es sich einfach genau richtig an. Natürlich. Als würde ich genau hier hin gehören.
Irgendwann wurde mir jedoch schwindelig und ich wäre wahrscheinlich zur Seite weggekippt, wenn Dillian mich nicht festgehalten hätte.
Wir starrten uns wieder einmal an, immer noch nah bei einander. Dillian drückte mich immer noch an sich und auch ich ließ ihn nicht los.
"Hey", sagte er leise nach einer Weile und ich musste lächeln.
"Hey", erwiderte ich.
Noch einmal berührten sich unsere Lippen sanft, bevor er mich auf den Schlafsack legte.
"Versuch zu schlafen. Ich bleibe hier.", flüsterte er mir zu.
Ich nickte und kuschelte mich in mein warmes Lager. Er blieb neben mir sitzen und nahm wieder meine Hand in seine.
Und bevor ich es merkte war ich eingeschlafen.
Ich wusste nicht wie lange ich Traumlos schlief aber irgendwann mussten die Ereignisse über mich hereinbrechen.
So sah ich die Mutation die ich getötet hatte.
Nur das sie sich diesmal kurz vor seinem Tod in meinen Vater verwandelte und mich enttäuscht ansah. Danach sah ich Haymitch sterben, nur dass er sich nicht mit einem Lächeln umdrehte, sondern traurig und enttäuscht.
"Warum hast du mich nicht beschützt wie versprochen?", fragte er Vorwurfsvoll und fiel einfach um. Andere schreckliche Bilder zeigten sich mir und ich fuhr schreiend aus dem Traum auf.
Ich hatte mich sogar wirklich aufgesetzt.
Mein Atem kam stoßweise und jedes mal wenn ich meine Lungen mit Sauerstoff füllen wollte, hatte ich das Gefühl keine Luft zu bekommen.
Dillian war auf einmal neben mir, versuchte meine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, doch selbst jetzt im wachen zustand, sah ich noch die Bilder.
"Primrue, es ist okay, es war nur ein Alptraum.", versuchte mich Dillian zu beruhigen, aber es half nichts.
Tränen bildeten sich in meinen Augen und liefen über, als die Panik sich einfach nicht legen wollte.
Der Drang aufzustehen und einfach wegzulaufen war unglaublich stark. Wohin ich rennen sollte und vor was ich davon laufen wollte, wusste ich nicht.
Nur weg, ich wollte nur weg.
"Primrue.", hörte ich wieder Dillians Stimme und ich versuchte mich auf ihn zu konzentrieren. "Atme, es ist alles gut. Atme einfach."
Ich tat was er sagte.
Langsam bekam ich wieder Luft. Als auch der Drang wegzulaufen verschwand und ich fühlte mich wie erschlagen.
Ich drehte mich zu Dillian, der sofort die Arme um mich schlang. An ihn geklammert, weinte ich. Es dauerte lange, bis ich mich wieder soweit beruhigt hatte, dass er mich dazu bringen konnte mich wieder hinzulegen.
Ich zog ihn jedoch mit mir, nicht gewillt ihn wieder loszulassen. Mit einen sanften Lächeln kam er mit in den Schlafsack und nahm mich in den Arm.
Er begann leise zu singen.
Seine Stimme war wunderschön. Tief und melodisch.
Viele Lieder kannte ich nicht, aber von ein paar wusste ich, dass sie aus Distrikt 12 waren.
Sein Vater hatte uns also nie ganz vergessen.
Ich dämmerte wieder leicht weg, schlief aber nicht ein.
Irgendwann mitten in der Nacht zog ein Sturm auf. Zu dem Regen gesellte sich nun Blitz, Donner und ein Wind, der immer stärker wurde. Hier in der Höhle waren wir sicher. Insgeheim stritten sich in meinen Inneren die unterschiedlichsten Gefühle.
Die eine Seite in mir hoffte, das welche der anderen Tribute da draußen waren und die andere hoffte, dass alle sicher wären.
Als die Kanone einmal ertönte, erschrak ich.
Meine Hände klammerten sich wieder fester an Dillian.
Automatisch begann seine Hand meinen Rücken zu streicheln.
Trotz des Unwetters fühlte ich mich sicher. Noch nie war ich hilfsbedürftig gewesen. Hatte Menschen an mich herangelassen, bis auf meine Familie. Aber bei Dillian wurde ich anschmiegsam, als wäre es normal.
Jemand war in diesem Unwetter da draußen gestorben und mein einziges Problem bestand darin nicht zu wissen wie viel Zeit mir mit Dillian noch blieb bevor ich sterben würde.

Primrue Mellark | Ungewolltes ErbeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt