Der Schlund der Finsternis

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Der Wind lässt das Rollo zittern. Durch die Ritzen fällt das helle, weiße Licht einer Straßenlaterne in das ansonsten pechschwarze Zimmer und malt ein Muster aus gestrichelten Linien an die Wand.
Ich lasse meinen Blick an den Linien entlangschweifen, hinein in die gähnende Leere. Hinein in den tiefschwarzen Schlund der Finsternis, der endlos in die tiefe führt. In ihm brodeln Gedanken. Schwarze und düstere Gedanken, schwer wie Gesteinsbrocken und auch ebenso scharfkantig. Die kleinste Unvorsichtigkeit reicht aus, um sich an den Gedanken zu verletzen.
Zum Glück bleiben all diese Gedanken eigentlich dort unten, durch die Schwerkraft im Schlund der Finsternis gehalten. Aber manchmal schafft es ein Gedanke hinaus zu hüpfen. Dann hilft er seinen Freunden aus dem tiefen Loch und gemeinsam begeben sie sich auf die Suche; ihr Ziel:  Menschen.
Haben sie sich ihr Opfer erst einmal ausgesucht, ist es fast unmöglich sie wieder loszuwerden. Sie nisten sich ein wie Parasiten, sind resistent wie Viren und verursachen unbeschreibliche Schmerzen.
Die meisten Befallenen leiden ihr ganzes Leben lang. Einige halten das durch, andere ziehen es vor, die Gedanken vorzeitig loszuwerden. Dann hört man Meldungen wie „Unbekannter schubst Gedanken vor ICE - Zugführer steht unter Schock“ oder „Gedanken hinterhältig von Hochhaus geschubst - der Täter befindet sich auf der Flucht“.
Die Gedanken sterben durch solche Aktionen aber leider nicht. Sie kehren zurück in den Schlund der Finsternis, wo sie nur sehnsüchtig auf ihren nächsten Ausflug warten.

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