Prolog

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Das Leben, das man im Camp, wie wir unser Zuhause alle nennen, führt, ist nicht schlecht. Morgens Schule, mittags Zeit für sich und seine Freunde. Für Essen und Unterkunft ist gesorgt, arbeiten muss man nur drei Mal die Woche. Und auch wenn sich so manch einer über die Arbeiten, die in einer Gemeinschaft von mehr als 800 Kindern und Jugendlichen anfallen, beschwert, können wir uns nicht beklagen. Im Großen und Ganzen führen wir ein sorgenloses Leben, beaufsichtig von wenigen Erwachsenen, nahezu selbstständig.

Aber nach 16 Jahren, in denen man außer dem Gelände des Camps kaum etwas gesehen hat, will man mehr. Die Welt außerhalb des schon Bekannten entdecken. Macht man sich die Mühe und steigt bis auf den höchsten Punkt des Geländes, einem Hügel im Osten des Camps, kann man weit in der Ferne die Stadt erkennen. Hohe Gebäude, die in der Sonne glitzern wie Kristalle und nachts helles Licht ausstrahlen, umrahmt von hohen dunkelgrauen Mauern, die die Stadt vom Rest abgrenzen.

Als ich sechs Jahre alt war, hat mir eines der älteren Kinder erstmals erklärt, was es sich mit unserem System auf sich hat. Alle Kinder werden noch als Babys in eines der acht Erziehungslager - die offizielle Bezeichnung der Camps - gebracht, die gleichmäßig in einem Kreis um die Stadt angeordnet sind. Jedes Jahr treffen 50 neue Säuglinge hier ein, um die sich die älteren Kinder unter der Aufsicht der erwachsenen Erzieher kümmern müssen. Mit dieser Maßnahme, die vor mehr als 80 beschlossen wurde, will die Regierung erreichen, dass jeder dieselbe Erziehung genießt und die Jugend früher selbständig handelt. Damals konnte ich nicht verstehen, wie man uns den Rest vorenthalten konnte. Täglich stieg ich hoch auf den Hügel und schaute stundenlang sehnsuchtsvoll in die Ferne. Mit den Jahren gewöhnte ich mich daran, auf meinen 16. Geburtstag zu warten, aber der bittere Geschmack des Fernwehs blieb. Manchmal frage ich mich, was die Eltern der Kinder dazu sagen, aber vermutlich haben sie keine andere Wahl. Schon oft habe ich mir vorgestellt, wie meine Eltern wohl aussehen. Von wem habe ich die widerspenstigen fast schwarzen Locken geerbt und von wem meine großen weit auseinander stehenden blauen Augen? Schon bald werde ich Antworten darauf haben. Antworten auf diese Fragen und noch auf viele mehr.

„Kommst du endlich! In einer Stunde geht es los", reißt Bria, die schon seit Wochen hibbelig vor Vorfreude ist, mich aus meinen Gedanken. Bria ist meine beste Freundin seit ich denken kann. In dasselbe Haus sind wir gezogen, als wir sechs Jahre alt waren und wir haben uns sofort gehasst. Es gab keinen Tag, an dem wir uns nicht gestritten haben, wie es Kinder eben tun. Jetzt, zehn Jahre später, sind wir unzertrennlich und teilen uns seit Ewigkeiten ein Zimmer.

„Ich komm ja schon. Sie werden schon nicht ohne uns losfahren", antworte ich, aber sie ist schon längst weitergelaufen, um sich von allen zu verabschieden. Mit ihrer humorvollen Art ist sie sehr gut darin, auf andere Menschen zuzugehen, und hat deshalb viele Freunde hier im Camp.

Ich schnappe mir die schwarze Tasche, die schon gepackt neben der Tür liegt, und werfe einen letzten Blick über meine Schulter in das Zimmer, das mir die letzten Jahre als Heim gedient hatte, bevor ich den Gang betrete und die Tür leise hinter mir schließe. In das Gefühl der Neugier und den Drang, Neues zu erleben, mischt sich nun auch ein wenig Trauer. Alles hier werde ich heute für das letzte Mal sehen und auch, wenn es Tage gab, an denen ich hier einfach nur noch raus wollte, war es doch mein Zuhause, der Ort, an dem ich aufgewachsen bin.

Ein letztes Mal wandere ich durch die Gänge unseres Wohnhauses. Im Gegensatz zu Bria bin ich niemand, der versucht besonders viele Leute für sich zu gewinnen, sodass ich nicht viele Personen habe, von denen ich mich verabschieden müsste.

Ich betrete die Küche und schmeiße die Tasche neben mich auf den Boden. Die Person, die ich hier gehofft hatte anzutreffen, steht am Waschbecken und spült gerade einen Teller ab.

Flaw(less)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt