Kapitel 4

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Ich fand es sichtlich amüsant, als er fuhr, weil ich an die Haltestange geklammert bis über beide Ohren grinste. Er redete ununterbrochen, wie ein Kommentator, was alles noch lustiger machte.

,,Nun ein roter Audi R8, eine Frau und ihr Mann, hinten ein kleiner Junge. Ziemlich knuffig, die Familie", erklärte er und ich kicherte. Jedoch wusste ich, dass mein Lachen nicht lange anhalten würde, weil Anxietas bald wieder in meinem Kopf auftauchen würde, ich wieder diese Wesen sehen würde oder beides zusammen. Daran wollte ich aber nicht denken, ich wollte jetzt einfach den Moment genießen, denn Matthews Anwesenheit war mir sehr angenehm.

Nach einer viertel Stunde setzte er mich vor meiner Schule ab, nachdem ich gefragt hatte, ob er denn auch alleine klar käme. Er bejahte, zu meiner Enttäuschung. Ich hatte ihm zwar meine Nummer gegeben, doch gleich wäre ich wieder gelangweilt, nachdem ich einen peinlichen Auftritt mitten im Deutschunterricht haben würde. Geknickt winkte ich ihm hinterher, bis er um die nächste Ecke bog. Während der Fahrt hat er mir viel über sich erzählt; Er war achtzehn, hatte seinen Führerschein und studierte Architektur und heute hatte frei, weshalb er sich mit alten Freunden treffen wollte. Lächelnd drückte ich die große Tür zum Foyer auf und schlenderte hindurch, zur Treppe, die ich leise hinaufstieg. Meine Schuhe klackerten unter meinen Füßen, während ich den Gang hinunterlief, bis zu unserem Klassenraum, dessen Tür ich vorsichtig öffnete und hineinschielte. Die Blicke meiner Klassenkameradinnen und meines Lehrers huschten zu mir hinüber und ich trat beschämt ein.

,,Entschuldigung, dass ich zu spät bin, aber unserer Bus hatte...eine Panne", erklärte ich, ging zu meinem Platz neben meiner besten Freundin Diana und ließ mich auf meinen Stuhl fallen.

,,Alles klar. Setzt dich, wir haben gerade sowieso nur geredet", sagte er und machte eine wegwerfende Geste. Nickend kramte ich meine Bücher aus meiner prallvollen Tasche und schmiss sie zusammen mit meinem beigen Federmäppchen auf den Tisch. Herr Kramer diskutierte weiter mit meinen Klassenkameradinnen, während ich interessiert lauschte und auf meinen Block schrieb. Zugegeben, ich hatte ein recht seltsames Hobby. Wenn mir im Unterricht langweilig war, schrieb ich philosophische und psychologisch Ausschnitte über Mobbing, den Tod, den Sinn des Lebens und über viele andere heikle Themen. Beides interessierte mich brennend und ich fühlte mich immer mental weiterentwickelt, wenn ich so etwas Kluges schrieb. 

Vielleicht war ich es ja auch?

Träum weiter, Mädchen. Du bist doch nicht klug.

Und die innere Stimme hatte erneut Recht. Vielleicht war ich wortgewandt, fremdsprachlich begabt und im moralischen Denken sehr gut, jedoch konnte ich nichts mit Naturwissenschaften anfangen und auch nicht mit Mathematik.

,,Ich denke jeder hat es verdient glücklich zu sterben, ob er nun Schlechtes getan hat oder nicht", erläuterte Jana und ich blickte auf. Heute war Zufallstag, definitiv. Erst Matthew und dann diese Moral.

,,Das denke ich auch. Selbst wenn man Fehler gemacht hat, Fehler sind menschlich! Ich denke, dass es nur dann schlimm ist, wenn man nicht daraus lernt oder sich gar dagegen sträubt, es besser zu machen. Und Selbstmord...das ist ein heikles Thema. Ich bin der Meinung, dass der Schmerz hier unten bleibt, wenn jemand sich das Leben nimmt. Wenn man Selbstmordgefährdert ist, denke ich, dass man sich einbildet wertlos zu sein, dass sich keiner für einen interessiert, dass man nicht wichtig ist. Man bildet sich ein, falsch zu sein, oder man erträgt den Schmerz der Vergangenheit nicht, wenn beispielsweise die Eltern verstorben sind. Ich finde das schlimm - das sind meist junge Leute, dreizehn- bis vierzehnjährige, die sich vom Schmerz befreien wollen. Die ihr Leben als wertlos und nutzlos einschätzen, Leute mit wenig Selbstvertrauen oder schlechten Erfahrungen. Schlussendlich ist es aber deren Entscheidung, ob sie zufrieden mt ihrem Leben sind oder nicht, wie sie es führen. Und wenn sie nunmal frei sein wollen und einfach keinen Zweck für das Leben wahrnehmen und auch keine Lebenslust mehr aufbauen können, dann sollen sie es tun. Hauptsache, sie sterben glücklich, dass scheint mir das Wichtigste", lieferte ich bei und widmete mich wieder meinem Block, auf dem sauber Suizid stand. Keiner sagte nun etwas, alle sahen wissend zu Boden und schämten sich für ihr Verhalten. Ein Mädchen aus unserer Klasse hatte es getan. Ihre Eltern waren tot und ihre Großeltern behandelten sie, von Gerüchten ausgegangen, nicht richtig. Sie bekam keine vernünftige Kleidung und auch keine guten Materialien, weshalb sie von einigen Mädchen der Parallelklassen gemobbt wurde. Sie wurde ausgelacht, geschubst, kritisiert und verprügelt. Sie tat uns wirklich Leid, wir haben ihr so gut es ging versucht zu helfen, doch diese Mädchen waren so gewalttätig, haben uns sogar gedroht auch zu verprügeln, wenn wir einen Lehrer alamieren würden. Und wir waren so naiv und haben das geglaubt. Wir haben zugelassen, dass sie verletzt wurde, gemobbt wurde und schließlich, dass sie sich umgebracht hat. Wir sind Teil des Grundes, dass sie sich umbrachte und sie tat es nicht in Frieden. Sie war so kaputt, so leer und sie konnte einfach nicht mehr. 

Sie müssen noch lernen, mit Verlust klarzukommen, meldete sich Anxietas plötzlich sachlich und ließ mich vor Schreck zusammenzucken.

,,Alles okay?", erkundigte sich nun die flüsternde Diana und runzelte die Stirn.

,,Ja, alles okay", antwortete ich knapp und betete, dass sie keine Begründung brauchte. Schulterzuckend und milde lächelnd drehte sie sich wieder zum Lehrer und hörte ihm gebannt zu.

Meinst du das ernst, Anxi? Ich dachte ein Kommentator in ihrem Hirn reicht, brabbelte meine innere Stimme und ich kam mir ziemlich seltsam vor. Meine innere Stimme formte sich ja automatisch aus meinem Unterbewusstsein, es war sowas wie eine wahrscheinliche Darstellung meiner Kritikerin, die von meiner herzallerliebsten, kleinen Schwester verkörpert wurde. Aber Anxietas redete völlig unverwandt mit mir, ganz plötzlich und sachlich, wie ein Lehrer oder etwas Ähnliches. 

Es wäre höflich, wenn sie mich nicht kommentieren, bittete er mich. Genervt verdrehte ich die Augen und widmete mich wieder meinem Text. Schon cool, wenn der Lehrer einfach mal eine Stunde redet. Wenn wir diskutieren, argumentieren und über bestimmte Dinge und deren Sichtweisen sprechen, einfach bloß, um es ein bisschen besser zu verstehen.

Nach dem Klingeln der Schulglocke schmiss ich meine unbenutzen Bücher in meine Tasche und warf sie mir über die Schulter, bevor ich, mit Diana an der Seite, aus dem, mittlerweile leeren, Raum schlenderte.

,,Was ist denn heute morgen passiert?", fragte sie mich neugierig und blickte mich von der Seite an.

,,Der Busfahrer ist beim Fahren bewusstlos geworden. Ich bin dann schnell nach vorn gerannt, hab den Bus in eine Parklücke gelenkt und die 112 angerufen. Die anderen Leute haben sich gar nicht gekümmert, genauso wenig, wie die Notärzte, die einfach bloß den Busfahrer mitgenommen haben. Dann hab ich die Leute nochmal gefragt, ob mir jemand hilft und da kam ein Typ, der war zufällig auch halb Brite, was ich irgendwie lustig fand. Er hatte einen Führerschein und hat mich dann hier abgesetzt", erzählte ich kurz gefasst und wir bogen um die Ecke, in der ein paar aufgestylte, lästernde Mädchen standen. Am Liebsten wär ich großkotzig hingegangen und hätte denen meine ausgeprägte und großteils geteilte Meinung gegeigt, jedoch hatte ich keine Lust, weshalb ich einfach auf die Antwort von Diana wartete.

,,Hört sich schwer nach ,großer Liebe' oder ,Liebe auf den ersten Blick an'", kommentierte sich schmunzelnd und ich stieß ihr mit meinem Ellbogen in die schmale Seite.

,,Du weißt doch, dass ich nicht an sowas glaube!", fuhr ich sie lachend an.

,,Wer weiß, wer weiß", murmelte sie und wackelte provokativ mit den Augenbrauen.

,,Wir sind hier nicht in 'ner Schnulze, also bitte, denke nicht so unrealistisch", forderte ich sie auf und rollte erneut mit den Augen.

Vielleicht hatte sie Recht...

Wer wusste das schon?

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⏰ Last updated: Jun 13, 2014 ⏰

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