6. Kapitel

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"Die Schule kommt dir wahrscheinlich gerade erstmal ein bisschen beängstigend und riesig vor, aber keine Sorge! Das legt sich nach ein paar Wochen." Sam grinste mich an und zeigte ihre strahlend weißen Zähne. Wir durchquerten die große Eingangshalle und bogen in den Gang ganz rechts ab. Dann ging es nach links und wir standen in einem langen Flur mit vielen davon abgehenden Türen.
"Hier wären wir auch schon! Das ist das Werwolfquartier." Sie machte eine schweifende Armbewegung. "Unser Zimmer ist gleich hier!" Sam deutete mir an ihr zu folgen und wir kehrten ein paar Schritte auf dem Weg zurück, den wir gekommen waren. Dann bogen wir nach links in einen winzigen Flur mit zwei Zimmertüren. Sam schloss die Rechte auf und ließ mir den Vortritt. Das Zimmer hatte sandfarbene Wände und in ihm standen ein Bett, das zerwühlt war, ein Schreibtisch und ein Kleiderschrank. Die Wand hinter dem Bett war über und über mit Polaroidbildern bedeckt.
"Es ist schön.", murmelte ich. Stirnrunzelnd sah ich mich um. "Aber wo ist mein Bett?"
Sam lachte. "Oh, stimmt, das habe ich ganz vergessen zu sagen! - Dort hinter der Tür." Sie zeigte auf eine kaum auffallende Tür an der Rückwand des Zimmers.
Vorsichtig drückte ich die Klinke hinunter, aus Angst, was mich erwarten würde. Doch meine Bedenken waren völlig unbegründet. Vor mir tat sich ein lichtdurchfluteter Erker auf, ebenfalls mit einem Schrank, einem Bett und einem Schreibtisch.
"Es ist wunderschön!", rief ich ihr über die Schulter zu. Behutsam stellte ich mein Gepäck aufs Bett. Auspacken konnte ich auch noch später. Da die Zeit hier nicht ganz mit der Zuhause übereinstimmte, war es bereits früher Abend. Ich ging zurück in Sams Zimmer. "Wer hat hier eigentlich vor mir gewohnt? Oder warst du ganz allein hier drinnen?"
Sams Lächeln versteinerte. "Davor wohnte hier Alisha. Sie war meine beste Freundin und so wie ich schon seit der 5. Klasse hier. Wir teilten seitdem dieses Zimmer. Letztes Halbjahr ist sie gestorben." Sie wischte sich mit dem Ärmel über die tränenden Augen. "Eine Vampir-Werwolf-Ausseinandersetzung - Nichts ungewöhnliches hier in Overtum."
"Du meinst, hier sind schon öfter Schüler wegen Auseinandersetzungen untereinander gestorben?" Auf meinem Körper breitete sich eine Gänsehaut aus.
Sam nickte. "Das kann man so sagen ..."
Ich schluckte. Das fing ja gut an... "Ähm, gehen wir Abendbrot essen?"

Die Mensa, wie es laut Sam alle nannten, entpuppte sich als riesiger Saal mit hohen Fenstern und einer großen Menge an Tischen. Wie die Zimmer schien auch die Mensa unterteilt zu sein. Allerdings weniger offensichtlich. Ich registrierte die Vampire, man erkannte sie an der auffallend blassen Haut und den dunklen Haaren, die hinten rechts saßen. Dann die Hexen, einfach zu erkennen an den herausstechenden roten Haaren und den eher ökologischen naturfarbenen Klamotten, in der vorderen rechten Ecke. Und die Werwölfe, aka die lautesten, gebräuntesten und muskulösesten von allen, im linken vorderen Bereich.
Sam hatte mich die ganze Zeit beobachtet. Hoffentlich war mein Blick nicht zu abcheckend gewesen... Schnell setzte ich ein hoffnungsvolles, zuversichtliches Lächeln auf.
"Okay, es gibt einige Grundregeln, die du wissen solltest." Sie nahm mich am Unterarm und zog mich sachte, aber bestimmt zum Buffet hinüber. "Fangen wir bei der Nahrung an. Hier", sie zeigte nach ganz links, "ist das Essen für die Hexen. Du weißt schon, Suppen mit Froschschenkeln, breiiges Kräuterzeug ... Und hier in der Mitte ist unser Essen. Rohes Fleisch, Fleischkeulen und so weiter. Das ganze gute Zeug - Super lecker! Und dort", sie deutete angeekelt nach rechts, "ist der Zapfbereich der Vampire. Ich sag nur: Blut. Aller Blutgruppen und Temperaturen." Sam sah mich bedeutungsvoll an. Ich nickte eifrig. Das war hier ja wie in einem Tiergehege. Lass bloß das Essen deiner Komparsen in Ruhe, sonst bist du tot! Fehlte nur noch, dass die Anführer zuerst aßen ...
Während sie mich zum Werwolfbereich führte, fuhr sie fort. "Setz dich nie - Niemals! - zu den Hexen oder Vampiren! Nicht mal aus Versehen! Es gibt für die Aufteilung der Sitzplätze von der Schule selbst keine offizielle Regel, aber hier unter uns gilt sie trotzdem: Bleib bei deiner Art. Verstanden?"
Etwas überrumpelt antwortete ich: "Ja."
"Gut. Meide Unterhaltungen mit ihnen, lächele ihnen nicht zu und flirte auf gar keinen Fall mit ihnen." Ihr Blick hätte nicht eindringlicher sein können.
"Niemals?" Das überraschte mich nun doch.
"Doch.", gab Sam klein bei. „Theoretisch kannst du es machen, aber auf keinen Fall in der Mensa. Was du privat machst, geht uns eigentlich ja nichts an, aber hier gelten wie gesagt unausgesprochene Regeln. Und die goldene Regel ist nun mal: Bleib bei deiner Art. Das kann man auf alles weitere übertragen, deshalb fallen weitere Regel eigentlich weg."
Oh. Mein. Gott. Wo war ich hier gelandet? Freies Verhalten war hier wohl ein Fremdwort ...

Wir erreichten unseren Tisch. Zumindest nahm ich an, dass das unser Tisch war, da Sam alle daran lautstark begrüßte.
"Das ist Lia, meine neue Mitbewohnerin." Ich hob schüchtern eine Hand. Für etwa drei Sekunden trat Schweigen ein. "Sie ist neu hier. Ist doch okay, wenn sie sich zu uns setzt, oder?" Alle wurden wieder etwas lockerer.
"Klar!", riefen die vier am Tisch laut und rückten meinen Stuhl nach hinten, schoben ihre Tabletts zur Seite oder fragten mich, wie es mir ging.
"Gut", antwortete ich. Diese laute, offene Stimmung hatte ich weder erwartet, noch war ich sie mir gegenüber oder auch sonst gewohnt. In der Cafeteria der Highschool war es immer ein eher halblautes Murmeln. Keiner hatte je herumgebrüllt oder so etwas. Aber gut, da aß auch niemand rohes Fleisch oder trank Blut.
"Ich hol uns was zu Essen." Sam zwinkerte mir zu und verschwand.
Ein bisschen allein gelassen starrte ich auf die Tischplatte.
"Hey du, woher kommst du?" Ich sah auf. Ein schwarzhaariges Mädchen, dass etwas älter als ich sein musste, sah mich fragend an.
"San Francisco.", antwortete ich.
"Oh, aus der Menschenwelt." Ein gutaussehender, muskelbepackter Junge sah verschwörerisch seine Freunde an. "Wie ist es da so? Alles cool? Seit wann bist du ein Werwolf?"
"Mann, Jeff! Lass sie doch!" Ein etwas weniger muskulöser, braunhaariger Junge sah mich freundlich an. „Hi! Ich bin Luke."
"Hi, Luke!" Ich lächelte ebenfalls.
"Aha, spürt ihr auch diese Chemie?", rief eine dunkelhäutige Schönheit sofort und pikte dem Mädchen neben ihr grinsend ihren Ellbogen in die Seite. Im Ernst! Sie war das schönste Mädchen, das ich je gesehen hatte. Ihre kringeligen schwarzen Locken standen wild vom Kopf ab und ihre dunkelbraunen Augen strahlten.
Luke verdrehte die Augen.
"Hier bin ich wieder!" Sam stellte zwei Tabletts auf dem Tisch ab und ließ sich auf einen Stuhl fallen. "Und? Habt ihr euch schon angefreundet?"

Werwolfsnacht - Die Chroniken von IntoriaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt