Spiegel

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Lieber Niemand,
Ich komme mir vor wie eine Verrückte, was ich wahrscheinlich auch bin. Wer sonst würde einen Brief in einer Damentoilette an einem Spiegel befestigen? Genau, niemand. Warum also hier? Auf Damentoiletten passiert immer viel mehr, als sich die Männerwelt vorstellen kann. Wir gehen nicht nur aufs Klo, wir telefonieren, tauschen uns mit unseren Freunden aus, lachen, reden, planen, kontrollieren unsere Taschen und vor allem stehen wir vor dem Spiegel. Genauso hätte ich diesen Brief in einer Beautyabteilung anbringen können. Denn wir starren in den Spiegel, und das manchmal ziemlich lang. Und zu welchem Ergebnis kommen wir? Wir sind hässlich. Unsere Nase zu groß, die Augen zu klein, die Lippen zu spröde, die Haut zu unrein, die Ohren stehen zu sehr ab und die Haare sind zu fettig und haben die falsche Farbe. Wir sind hässlich, oder? Dann gibt es da oft auch noch diese Ganzkörperspiegel. So wie dieser hier. Die Begutachtung geht weiter und nimmt kein Ende. Wir sind zu klein, die Arme zu lang, die Brüste zu klein, die Taille nicht vorhanden, Hüften zu breit, am Bauch ist zu viel, die Oberschenkel sind zu dick und die Beine zu kurz. Gibt es überhaupt etwas, was wir an uns schön finden? Wir sind hässlich, oder?
Wir sind schön, unsere Gedanken sind hässlich. Wieso sollte unsere Figur nicht schön sein? Wieso müssen wir anders aussehen? Es gibt doch kein Richtig und kein Falsch beim Aussehen. Wir sind alle schön, wenn unsere Gedanken es sind. Warum sollten wir einem Ideal nacheifern, wenn wir am schönsten sind, wenn wir wir selbst sind? Ich muss dich nicht einmal sehen und dir zu sagen, dass du schön bist. Du brauchst keinen Spiegel um zu kontrollieren wie du aussiehst, denn du siehst zu jeder Tageszeit gut aus. Denke immer daran: Du bist schön. Selbst und gerade durch deine Makel, denn die machen dich zu der Person die du bist.
Dein Jemand

Letters To No One   Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt