Lehrstunden Teil 1

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Die Sonne brannte Lina erbarmungslos auf den Nacken und trieb ihr zusätzlich den Schweiß in die Stirn. Dabei schwitzte sie schon von der körperlichen Anstrengung, durch die Ruinen von Narms zu klettern. Ächzend wischte sie ihn mit dem Ärmel weg und zog den Schal wieder zurecht, der ihren Kopf vor der Sonne und dem Wind schützte.

»Wir werden in den Ruinen nichts mehr finden, Enerem.«

»Bislang sind wir immer fündig geworden.«

Sie ignorierte den bissigen Unterton seiner Stimme und lehnte sich in den Schatten eines Hauses. Es waren erst zwei Wochen vergangen, seitdem Narms durch Galthrans Schatten zerstört worden war, aber die Stadt wirkte, als wäre sie seit Jahrhunderten verlassen. Der Staub der Wüste hatte eine dicke Dreckschicht auf die zerstörten Mauern und verschütteten Straßen gelegt und alles schien dadurch wie in tiefen Schlummer zu liegen. Ihre kleine Gruppe war das einzige Leben in der einstigen Hauptstadt. Nicht einmal ein Bihlnor oder ein Marlong verirrte sich noch hierher.

Lina strich mit der Hand über einen zerborstenen Balken und folgte Enerem ins Innere. Ihr behagte es nicht, in die einsturzgefährdeten Gebäude zu gehen. Aber ihnen blieb nichts anderes übrig. Ihre geringen Vorräte waren beinahe aufgebraucht und sie benötigten neues Verbandsmaterial für Liliens Wunden.

Vor ihr raschelte es leise, als Enerem unter einen umgestürzten Tisch kroch. Ein erstickter Laut folgte kurz darauf.

»Hast du was gefunden?«

»Hilf mir!«

Sie kroch zu ihm und fand den Kater vor einer großen Kiste.

»An die kommen wir nicht ran.« Sie krabbelte wieder zurück und wuchtete den Tisch mit all ihrer Kraft zur Seite.

Enerem schnupperte bereits an dem gesprungenen Deckel, ehe Lina einen Schritt hatte gehen können. Trotz der langen Reise mit dem Divinkater erstaunte sie seine Schnelligkeit immer noch. Knarzend öffnete sich der alte Holzdeckel, unter dem allerlei Dinge zum Vorschein kamen, jedoch kaum etwas, was sie gebrauchen konnten. Lediglich einige Stoffstreifen, die früher wohl einmal als Schärpe für die weiten Gewänder der Dendalors gedient hatten, und einige Schnüre konnten sie benutzen. Enttäuscht verstaute sie die magere Ausbeute in ihrem Umhängebeutel und folgte Enerem in den nächsten Raum.

***

Nach mehreren Stunden kehrten sie schließlich um. Die Sonne senkte sich bereits auf die Hügel, die Narms umfassten, und lange Schatten quollen aus den Gassen der Stadt hervor.

»Wir sollten bald weiterziehen«, murmelte Enerem, den Blick in den düsteren Himmel gerichtet. »Nicht nur wegen der kargen Nahrungsmittel. Die Sonne brennt heiß und das Firmament verdunkelt sich.«

Besorgt sah auch Lina hinauf. Dunkelviolette Wolken jagten über einen seltsam grau wirkenden Himmel. »Wir müssen erst einmal Liliens Heilung abwarten. Wir können ihn nicht einfach allein zurücklassen.«

Enerem musterte sie mit seinen golden funkelnden Augen. Die Schnurrhaare zitterten. »Die Heilerin wird ihn pflegen.«

Im Grunde hatte der Kater recht, aber etwas in Lina sträubte sich gewaltig gegen seine Aussage. Sie konnte den Dendalor, den Wächter, nicht allein in dieser toten Stadt zurücklassen. Was, wenn ihm etwas geschah? Anfala plötzlich etwas zustieß? Keiner würde ihnen zu Hilfe eilen können ...

Sie öffnete den Mund zu einer Erwiderung, schloss ihn aber sofort wieder. Enerem würde ihre Argumente nicht verstehen, wenn sie diese selbst nicht wirklich verstand. Es war ihr unheimlich, wie viel sie für diesen Mann empfand, obwohl sie ihn kaum kannte. Schon bei dem Gedanken, ihn zu verlassen, zog sich ihr Magen zusammen. Sie drängte das unangenehme Gefühl beiseite. Kurz sah sie wieder zu Enerem, der sie immer noch anstarrte, fragte aber nicht das, was ihr schon seit einiger Zeit im Kopf herumging. Der Kater war definitiv der falsche Ansprechpartner für Gefühlsdinge – auch wenn diese eventuell ursprünglich nicht von ihr stammten, sondern von zwei gewissen Büchern ...

Sylnen - Die Bestimmung des Hüters (Leseprobe)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt