Chloe
„Geh, geh du, und laß mich hier bleiben. Was ist hier? Ein Becher, in meines Geliebten Hand? Gift, wie ich seh, ist sein unzeitiger Tod gewesen. O du Unfreundlicher, alles auszutrinken, und nicht einen freundschaftlichen Tropfen übrig zu lassen, der mir dir nach helfe! Ich will deine Lippen küssen; vielleicht hängt noch so viel Gift daran, als ich nöthig habe. Deine Lippen sind noch warm..."*
Gefesselt von dem Schauspiel auf der Bühne vernahm ich erst später das gleichmäßige Schnarchen meines Sitznachbars. Genervt verdrehte ich die Augen und schlug ihm einmal kräftig gegen den Oberarm. Er verschluckte sich kurz in seiner Atmung, hustete röchelnd und blinzelte dann mit kleinen, verschlafenen Augen zu mir. Eine ältere Dame vor uns räusperte sich pikiert und warf einen mahnenden Blick über ihre Schulter.
„Entschuldigen Sie.", flüsterte ich leise und warf einen bösen Blick auf meinen Bruder Paul, welcher sich anscheinend so langsam wieder daran erinnerte, wo er war.
„Dauert es noch lange, bis sie sich killt?", wisperte er leise in mein Ohr und warf einen Blick auf seine Armbanduhr.
„Gleich hast du es überstanden!", raunte ich, woraufhin ich mir nicht sicher war, ob er „Und die arme Julia hoffentlich auch." murmelte oder einfach noch verschlafene Laute von sich gab.
„O glüklicher Dolch! Hier ist deine Scheide, hier roste und laß mich sterben."*
„Na endlich!", stöhnte Paul und ließ sein Gesicht erleichtert in seine Hände fallen.
„Ich muss doch sehr bitten!", fauchte die ältere Dame von eben und spuckte dabei. Obwohl es im Saal noch dunkel war, konnte ich die kleinen Spucketröpfchen im schummrigen Licht des Notausgangschildes erkennen, wie sie langsam zu Boden rieselten.
Als sie sich wieder umdrehte, ging das Licht langsam an und die Schauspieler kamen nochmal alle gemeinsam auf die Bühne, um sich zu verbeugen.
Ich klatschte laut und bewunderte ein letztes Mal die tollen Kostüme, während Paul schon seinen Mantel anzog und mich schuldbewusst anblickte, nachdem ich es registriert hatte.
„Wenn wir jetzt abhauen, dann kommen wir vor dem großen Aufbrechen hier raus.", erklärte er und zuckte mit den Schultern.
Ich stöhnte erneut genervt und erhob mich ebenfalls. „Mein Mantel ist aber draußen, den habe ich doch an der Garderobe abgegeben."
„Stimmt...", Paul klatschte sich mit der flachen Hand auf die Stirn. „Ich habe dir doch gesagt, dass du ihn mit rein nehmen sollst."
„Das macht man aber nicht im Theater."
„Hör mal, mir ist das relativ egal was man hier macht und was nicht, ich würde jetzt gerne einfach von hier verschwinden!", meinte er genervt und blickte mich auffordernd an. „Kommst du?", fragte er.
Ich folgte ihm widerwillig und kramte in meiner Handtasche nach dem Chip für die Garderobe. Neben meiner schwarzen Kredtikarte, welche mir Daddy für den Notfall hatte machen lassen, einer Reisegröße meines Lieblingsparfums, einem klassischen roten Lippenstift und meinem iPhone, fand ich den schwarzen Chip mit goldenen Lettern des New Yorker Stadttheaters. Ich reichte dem jungen Herren das Stück Plastik, auf welchem eine geschwungene 21 eingraviert war und tippte mit meinen rotlackierten Nägeln auf dem Holzthresen der Garderobe herum.
„Hier Miss Carter, ich hoffe sehr, Ihnen hat die Aufführung gefallen!", erkundigte sich der Herr und reichte mir meinen roten Mantel.
„Es war, wie immer, sehr bewegend.", lobte ich und nickte anerkennend.
Dass ich hier schon namentlich bekannt war hätte daran liegen können, dass ich das Theater liebte und mindestens einmal in der Woche eine Vorstellung besuchte, war aber eher dem Grund geschuldet, dass mein Vater ein einflussreicher Mann an der Wall Street war und neben einigen anderen ein großer Sponsor vieler Aufführungen, welche hier stattfanden.
„Komm jetzt endlich...", drängelte Paul, welcher sich schon ungeduldig eine Zigarette in den Mund gesteckt hatte.
Ich verabschiedete mich flüchtig von dem Herren an der Garderobe und folgte Paul durch die goldene Drehtür in die kühle Novembernacht.
„Das war wirklich das letzte Mal, dass ich dich mitgenommen habe!", stöhnte ich genervt und klaute ihm seine Zigarette, welche er sich kurz zuvor angesteckt hatte.
„Ja! Bitte! Meine Gebete wurden erhört!", rief er freudig aus und schlug seine Hände vor der Brust zusammen, als würde er beten. „Du kannst diesen Quatsch doch sogar schon mitsprechen, wieso guckst du es dir immer noch an?"
„Weil", begann ich wütend, „es erstens kein Quatsch ist, sondern die bekannteste Liebesgeschichte, welche jemals verfasst wurde und zweitens jede Aufführung anders ist."
"Schon klar... Wo bleibt der Wagen? Er müsste längst hier sein.", überlegte Paul laut und blickte auf die befahrene Straße vor uns.
"Mist!", rief ich aus, "Ich muss eben an der Garderobe mein Handy vergessen haben. Als ich den Chip gesucht habe, habe ich es glaube ich auf dem Tresen liegen lassen."
"Ernsthaft?"
Ich zuckte entschuldigend mit den Schultern. „Ich werde kurz reingehen und nachschauen. Warte hier!"
Paul fluchte und murmelte etwas, was so klang wie „Immer das gleiche mit ihr..." während ich wieder durch die Drehtür ins Innere des Gebäudes verschwand.
„Scott!", meinte ich freundlich und sprach den Herren von der Garderobe an. Dank meiner häufigen Besuche wusste ich seinen Namen und, nur ganz nebenbei, dass er eine kleine Schwäche für mich hatte. „Habe ich gerade zufällig mein Handy hier liegen lassen?"
Die schüchternen braunen Augen des Mitarbeiters fanden mich. „Ähm, Miss Carter. Ich bin nicht sicher, vielleicht... Lassen Sie mich kurz nachschauen."
„Danke, Scott!", säuselte ich und lehnte mich gegen den Tresen.
Der Vorraum des Theaters war nun um einiges mehr gefüllt als eben, da die Vorstellung nun für alle beendet war.
„Das ist mir jetzt sehr peinlich, Miss Carter. Normalerweise werden hier nicht so viele Handys abgegeben, dass kann ich mir wirklich nicht erklären...", meinte Scott, als er beschämt mit einem Pappkarton in der Hand auf mich zukam.
In Selbigem lagen an die zehn Smartphones.
„Die wurden hier heute alle verloren?"
Er zuckte mit den Schultern. „Mir kommt es doch auch sehr komisch vor. Ist Ihres denn dabei? Wenn hat meine Kollegin Ihr Handy in die Fundkiste gelegt."
Ich scannte flüchtig den Pappkarton und sah auf anhieb, dass sechs von den zehn Smartphones iPhones waren, allerdings nur eins in spacegrau. „Ja, das hier!", meinte ich sicher und griff danach.
„Gut, normalerweise müssten sie jetzt ein Formular unterschreiben, aber da Sie hier im Haus bekannt sind und es zudem ja keine fünf Minuten her ist, lassen wir das mal!", grinste Scott und umklammerte den Karton.
„Vielen lieben Dank! Ich wünsche Ihnen einen schönen Feierabend!", lächelte ich und ging wieder zurück zu meinem Bruder.
„Was hat das denn solange gedauert?", fragte dieser. Paul hielt mir ungeduldig die Tür des Wagens auf, welcher vorgefahren war und warf wieder einen Blick auf seine Armbanduhr.
„Halte ich dich von irgendwas ab?"
„Nicht von etwas, von jemanden.", antwortete er knapp und ging einmal um den Wagen, um auf der anderen Seite einzusteigen.
„Das erklärt Einiges!", lachte ich und überschlug meine Beine auf dem Ledersitz des Autos. „Dann danke ich dir umso mehr, dass du die Zeit gefunden hast, mich zu begleiten."
„Für dich immer, Schwesterherz. Walt, fahren sie bitte zum Plaza?", wies er den Fahrer an, welcher nickte. „Wo sollen wir dich absetzen?"
Ich stöhnte. „Zuhause, denke ich."
„An einem Samstagabend? Bist du dir sicher?"
Ich zuckte mit den Schultern und griff nach meinem Handy. „Bisher hat sich keiner gemeldet. Vielleicht rufe ich mal Em an, was so geht." Ich legte meinen Daumen auf den Homebutton des Handys, doch es entsperrte sich nicht automatisch wie gewohnt. „Mistding!", fluchte ich und übte auf den Knopf leichten Druck aus, damit ich den Code eingeben konnte. „Das gibt es doch nicht...", regte ich mich weiter auf.
„Was ist denn jetzt schon wieder?", fragte Paul desinteressiert.
„Ich habe jetzt zweimal meinen Code eingegeben, aber das Handy meint, er wäre falsch."
„Hast du dich vielleicht vertippt?"
Ich legte voller Argwohn meinen Kopf schief und schaute meinen Bruder skeptisch an. „Ich wüsste wirklich nicht, wie man sich bei 1 2 3 4 vertippen könnte."
Ungläubig zog mein Bruder seine buschigen Augenbrauen hoch und fuhr sich durch die perfekt zurückgekämmten blonden Haare. „Das ist nicht ernsthaft dein Code?"
„Eine Diskussion über die Sicherheit meines Codes ist gerade echt unangebracht."
„Von Sicherheit kann man in diesem Zusammenhang wirklich nicht sprechen, Chloe.", lehrte mich mein Bruder und nahm mir das Handy ab. „Ich gebe den Code mal ein, vielleicht hast du mit deinen irre langen Nägeln auch einfach daneben getippt."
Ich schaute ihm dabei zu, wie auch er die Zahlen 1 2 3 4 eingab, doch wieder wackelte die Anzeige und die Meldung ‚Code falsch' erschien.
„Was ist das überhaupt für ein absolut hässlicher Sperrbildschirm?", fragte er mich gehässig und gab mir mein Handy zurück.
„Wieso, das sind Em und ich bei dem letzten Benefizball im...", ich stockte, als ich nicht auf das vertraute Bild von meiner besten Freundin und mir in Ballkleidern blickte, sondern drei komisch gekleidete Menschen mit Lichtschwertern erblickte. „Was zum..."
„Ich wusste nicht, dass du auf Star Wars stehst!", grinste Paul.
„Tue ich nicht!", meinte ich und schluckte, „Das hier ist definitiv nicht mein Handy!".
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* Text stammt aus 'Romeo und Julia' von William Shakespeare
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UPPER EAST SIDE GIRL
FanfictionChloe liebt Champagner, Ed mag Bier. Chloe geht gerne in schicke Clubs, Ed trifft sich lieber in belebten Pubs. Sie könnten unterschiedlicher nicht sein: Chloe Carter lebt auf der Upper East Side, NY, das gehobene und privilegierte Leben eines High...