Die Welt ist groß.
Verdammt groß.
Und ich bin verdammt klein.
Zumindest wird mir das klar, als ich am Ankunftsgate am Stuttgarter Flughafen stehe, meine angry-birds Plastiktüte mit meinen sieben Sachen fest an mich gepresst. Eigentlich hätte ich einen Koffer dabeihaben sollen, einen großen Koffer mit all den Dingen, die ich für mein neues Leben in Deutschland brauche. Aber der steht leider in Helsinki.
Fragt lieber nicht, wie er da hin kommt!
„Entschuldigung?“ Verwirrt drehe ich mich zu einem hochgewachsenen jungen Mann mit hoch gegelten Haaren um, der mich verärgert ansieht und mir bedeutet zur Seite zu gehen. Es dauert einen Moment bis ich mich wieder ans Deutsche gewöhnt habe, doch dann verstehe ich und springe schnell zur Seite.
Das die Leute hier aber auch so hetzen müssen. Als wäre der Tod hinter ihnen her!
Aber zurück zu mir. Der kleinen Savanna de Ruijter am großen Stuttgarter Flughafen.
Wobei er vermutlich nicht so groß ist. Der in Amsterdam ist viel größer, aber ich will jetzt den dramatischen Moment nicht kaputt machen.
Vielleicht sollte ich erstmal schauen, wie ich zur U-Bahn komme. Markus hat mir extra noch per Mail geschrieben, welche Linie ich nehmen muss, um zum Hauptbahnhof in der Nähe seiner Wohnung, unserer Wohnung, zu kommen. Es kam alles ziemlich plötzlich: Die Zusage vom Palladium Theater Stuttgart, der plötzliche Umzug. In dieser kurzen Zeit hätte ich nie und nimmer eine Wohnung gefunden, zu mal ja auch noch die Abschlussprüfungen an der Theaterschool liefen. Umso glücklicher war ich als Markus, der Sohn meiner Patentante, anbot, mich bei sich aufzunehmen, bis ich was Eigenes habe. So kann ich mich in Ruhe auf die Proben konzentrieren und nach der Premiere mach ich dann Stuttgarts Immobilienszene unsicher.
„Entschuldigung? Können sie mir sagen, wo es geht zur Tram?“ spreche ich eine nett lächelnde Junge Frau und hoffe inständig, das ich den Satz grammatikalisch richtig ausgesprochen habe. Die Frau nickt nur freundlich und deutet auf ein Schild direkt über mir.
Wie peinlich.
„Dank u well“ antworte ich, löse mein Ticket (stolze 4,70 Euro, die Preise hier sind ja Wucher!) und laufe in Richtung U-Bahnstation. Verdammt!! Aber das ist bestimmt nur die Aufregung.
Auf dem Bahnsteig angekommen, sehe ich wie sich gerade die Türen der Waggons schließen. Verdammt! Dabei müsste das meine sein und die Nächste kommt erst in einer Stunde.
Ich nehme meine Beine in die Hände, sprinte zur Tür und schaffe es gerade noch so in das Abteil.
Ich nicke ich dem älteren Herrn, der mir die Tür geöffnet hat, freundlich zu und atme erstmal tief durch. Das wäre also geschafft!
Suchend sehe ich mich nach einem freien Platz um. Alles belegt. Na super!
Als ich meinen Blick abermals durch das Abteil schweifen lasse, bleibt mein Blick an einem jungen Mann hängen, der zu mir rüber starrt. Er ist vielleicht ein, zwei Jahre älter wie ich und sieht ziemlich gut aus. Dunkle Haare, Drei Tagebart, Grübchen.
Und der Platz neben ihm ist noch frei. Ob ich mal zu ihm rüber soll?
Ist ja nichts Verbotenes dabei, schließlich ist sonst nirgends Platz. Für meine Verhältnisse relativ unauffällig schleiche ich zu ihm rüber und sehe ihn schüchtern an.
„Verzeihung…“ Verzweifelt suche ich nach dem richtigen Deutschen Wort für „besetzt“, doch er lächelt mich nur an und kommt mir zur Hilfe:
„Klar, der Platz ist frei!“
„Danke“ murmele ich und bin verdammt stolz auf mich, dass ich diesmal tatsächlich auf Deutsch geantwortet habe.
Die Bahn setzt sich in Bewegung und ich werde leicht nach vorne geworfen.
Der Typ sieht mich immer noch an.
Und ich? Ich kann nicht anders und starre zurück. Wie gerade seine Zähne sind.
Ob er wohl eine Zahnspange hatte? So eine wie ich, mit richtiger Schnalle um den Kopf?
Savanna, worüber du wieder nachdenkst! Du solltest dir lieber überlegen, ob du ihn ansprechen sollst. Schließlich kann es nicht schaden, in Stuttgart gleich ein paar Leute zu kennen. Und schüchtern bist du sonst auch nicht.
Verlegen wende ich mich ans Fenster, in dem sich mein Gesicht spiegelt. Ein von braunen, zu einem Dutt gebundenen Haaren umrandetes Gesicht mit blauen Augen. Jason sagt, dass ist etwas ganz besonderes: dunkle Haare und blaue Augen. Aber er muss das ja auch sagen, weil er mein Bruder ist.
Mein Bruder, der genau die selben Grübchen hat wie der Typ mir gegenüber.
Um nicht ständig auf sein Gesicht zu starren, fokussiere ich sein T-Shirt und versuche die Schrift darauf zu endziffern.
Vio. Vio steht drauf.
Also bei uns in den Niederlanden ist Vio eine Wassermarke. Dieser Gedanke bringt mich zum Schmunzeln und ich muss mir Mühe geben nicht laut aufzulachen.
Plötzlich hält die Bahn mit einem Ruck und mir fällt siedendheiß ein, dass ich ja auch irgendwann aussteigen muss.
Wie viele Stationen muss ich fahren, hat Markus noch mal gesagt? Vier?
Dann müsste ich prinzipiell jetzt raus.
Unsicher lächele ich dem Wassermann noch einmal zu, schnappe meine Plastiktüte und stehe auch schon draußen in der warmen Nachmittagssonne.
Bevor ich in das kleine Bahnhofsgebäude trete, drehe ich mich noch einmal um und sehe der Bahn hinterher.
<Ich wette, in zehn Minuten denkt er nicht mal mehr an unsere Begegnung eben>
Nachdem ich mich damit abgefunden habe, dass der Wassermann vermutlich für immer aus meinem Leben verschwunden ist, sehe ich mich interessiert um.
Das sieht hier aber ganz und gar nicht nach Hauptbahnhof aus.
Der ganze Bahnhof besteht aus einem kleinen Häuschen, in dem ein Schaffner gelangweilt seine Brille putzt und Kreuzworträtsel löst. Auf dem Parkplatz stehen zwei Autos und die paar Wohnhäuser sehen auch nicht gerade nach Großstadt aus.
Und vor allem: Wo ist Markus?
Irritiert krame ich mein Handy Marke letztes Jahrtausend aus der Plastiktüte und wähle Markus Nummer. Es dauert nicht lange bis er sich meldet.
„Savanna! Wo bleibst du?“
„Wo ich bleibe? Der Frage ist eher: Wo bleibst du?“ antworte ich und schirme meine Augen gegen die helle Augustsonne ab.
„Ich stehe am Hauptbahnhof am Bookstore.“
„Ich nicht“
„Ja das merke ich“ lacht er.
„Wo bist du dann?“
Da fällt mein Blick auf ein blaues Schild über dem Bahnsteig.
„Göpp…Göppingen“ lese ich stockend vor, woraufhin Markus Lachen immer lauter wird.
„Na dann Wilkommen in Stuttgarts Kaff Nummer Eins. In ner halben Stunde bin ich da.“
Irritiert klappe ich das Handy zu und setze mich auf eine verlassene Bank in der Sonne.
Der Schaffner in seinem Kabuff sieht nur einmal kurz auf, bevor er sich wieder seinem Kreuzworträtsel zu wendet.