40. Die Abrechnung

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AZAD

"Perhaps it is our imperfections that make us so perfect for one another."

Jane Austen

Seit dem Hilferuf von Zümra war nun eine weitere Woche vergangen und insgesamt hatte ich mich in dem Thema mich von ihr fern zu halten gut geschlagen. Heute war der letzter Vorlesungstag, ich konnte es nicht fassen, wie schnell bereits meine vorletzte Klausurphase anstand — und wie viel ich eigentlich im letzten halben Jahr erlebt hatte.
Ich warf einen letzten Blick auf mein Spiegelbild ehe ich die Wohnung verließ — meine Augenringe waren seit dem Ende der Ferien wieder deutlicher geworden, die Haare waren von einer Snapback bedeckt und mein Bart war zu einem Vollbart übergegangen. Kurz gefasst: mein Leben geriet wieder einmal aus den Fugen.

„Gut, dass ich dich treffe", hörte ich Zümras Stimme nachdem ich aus der Wohnung trat hinter mir und sah sie überrascht an.

Seit wann saß sie auf der Treppe?

Langsam lief sie auf mich zu und beäugte mich kritisch. „Ich hoffe du hast es nicht eilig, denn wir beide gehen jetzt zum Max-Eyth-See und reden", ihre Hand umfasste mein Handgelenk, direkt nachdem ich die Tür abschloss, und sie zog mich mit zu den Treppen. Schnell liefen wir die dreizehn Stockwerke runter und waren nach einigen Minuten im Eingangsbereich unseres Hauses angelangt.

„Azad, was ist los?", Zümra zog ihre Augenbrauen zusammen, während sie mein Profil studierte. Wir saßen auf einer der vielen Bänke, mit Ausblick auf den künstlich angelegten See. Die Sonne war noch nicht aufgegangen und es schneite. Wir befanden uns an einem viel zu idyllischen Ort, um über so tiefgründige Themen zu sprechen.

„Nichts?", gab ich ein wenig genervt von mir — wie konnte ich so ekelhaft mit ihr umgehen? — und entriegelte mein Handy. Keine Sekunde später wurde es mir aus der Hand gerissen und Zümras strengen Blicke waren gerade dabei, mich zu töten. Sie ließ mein Handy in ihrer Jackentasche verschwinden und seufzte laut auf. „Seit vier verdammten Wochen bist du nun so – du meidest mich. Du gehst eine halbe Stunde früher als sonst aus dem Haus – übrigens, bist du behindert? Warum tust du dir so etwas an? – , verbringst deine Wochenenden nicht mehr zuhause. Also was ist dein gottverdammtes Problem! Du lässt Bisasam nicht mehr rein, das Tier ist total gekränkt", zischte sie, dabei wurden ihre Augen immer schmaler, die Ader an ihrer Stirn dafür immer deutlicher. Das zeigte mir nochmals, dass sie sauer war — sauer auf mich war. „Es ist nichts", log ich dennoch und wandte mich nun wieder von ihr ab.

Was hätte ich denn sagen sollen? Dass ich nicht damit klarkam, dass sie Mevlüt kannte? Dass ich mich meinem Bruder gegenüber schuldig fühlte, weil ich ihm seine große Liebe ausspannte?
Es schmerzte in meiner Brust, sie so zu behandeln, sie im Unwissen zu lassen. Aber die Sache mit Mevlüt und ihr hatte mich echt überfordert.
Ich kannte die Mevlüt-Sicht zu dieser ganzen Sache, wusste wie er fühlte, wusste wie sehr er sie eigentlich liebte – noch weit bevor ich sie kennenlernen durfte.

„Es ist nichts. Ich bin einfach nur müde", versuchte ich mich rauszureden und hörte sie aufgebracht lachen. „Daran zweifle ich doch keine Sekunde! Sag mir einfach nur, was dir deinen Schlaf raubt. Vielleicht lässt sich eine Lösung finden!", erzürnt fuhr sie sich durch die Haare und brachte somit ihre ohnehin unordentlichen Locken in eine vollkommen katastrophale Lage. Ich unterdrückte ein Lächeln, selbst so sah sie wunderschön aus.

„Weißt du was? Tu doch, was du nicht lassen kannst! Du hast kein Recht mich so zu behandeln, verstehst du! Und das ist zwar das letzte was ich will, aber du lässt mir keine andere Wahl, als mit dir im Streit auseinander zu gehen", kopfschüttelnd stand sie auf und klopfte den Staub von ihrer Hose ab. Eine ganze Minute hatte sie darauf gewartet, dass ich auf ihre Worte einging, doch als sie merkte, dass bei mir nichts geschah, konnte sie sich nicht mehr ruhig verhalten. „Wie meinst du das?", meine Stimme klang ein Tick zu überrascht, zu interessiert. Sie lachte leicht hysterisch, und ich hasste mich dafür, sie in diese Situation gebracht zu haben. „Als würde es dich interessieren", hörte ich sie vor sich hinmurmeln, doch reagierte nicht darauf – war wie gelähmt.

Fels in der BrandungWo Geschichten leben. Entdecke jetzt