Abspringen

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Es gab mindestens drei Gründe, weshalb Jocelyn Maibach für Joel ein scheinbar unlösbares Rätsel darstellte:

Erstens, weil sie ihn dazu veranlasste seine bisherigen pflichtgemäßen Grundsätze und Prinzipien über    

            den Haufen zu werfen,

Zweitens, weil sie der erste Mensch war, bei dem er sich ungezwungen fühlte und

Drittens, weil sie ihn gerade küsste...und er es zuließ.

Für einen Moment lang verloren seine Gedanken völlig die Orientierung, sausten kreuz und quer durch seinen Kopf, prallten aneinander, kollidierten, trennten sich um ein undurchsichtiges Chaos zu schaffen.

Was war los mit ihm? Er schmeckte süßlichen Regen. Warum zitterte er? Er spürte sanfte Haut unter seinen Fingerkuppen. Wieso raste sein Herz so unglaublich schnell? Er hörte den Regen auf sie niederprasseln. Was tat er da bloß? Ihren Atem. Woher kam dieses plötzliche Ziehen? Ihren Herzschlag. Weshalb schloss er die Augen? Ihre eigene Verwirrtheit. Wieso fühlte sich das so richtig an? Ihre bebenden Lippen. Obwohl es nicht richtig war? Ihre wachsende Unsicherheit. Oder doch?

Nichts mehr. Nichts mehr?

Nein...nein...nein, nein, nein, nein, nein!!! Josy, das hast du dir gerade eingebildet oder? Bitte sag, du hast nicht gerade...du kannst doch nicht...hast du dich...komm schon, das kann doch nicht wahr sein!

Erschrocken schlug ich mir die Hand vor den Mund, wollte einen Schritt vor der eigenartigen Nähe zurückweichen, doch da war der knorrige Stamm des Baumes über mir, über uns, also drehte ich schnell meinen Kopf weg, umfasste meine nassen Arme und starrte aufgebracht auf die grünen sonnenbeschienenen Felder, damit ich nicht in Joels dunkle, mich durchschauende Augen blicken musste, die mich eben noch so sehr in ihren Bann gezogen hatten.

Was hatte ich da gerade gefühlt, als Joel mir die Haare aus dem Gesicht gestrichen hatte und seine kühle Hand meine erhitzte Wange berührte? Jedenfalls etwas, das mein Gehirn dazu gebracht hatte sich für einen Moment komplett auszuschalten, dachte ich, während die letzten Regentropfen mein Gesicht herunterrannen. Bei der Wärme, die ich auszustrahlen schien, sollten sie eigentlich verdampfen.

Innerhalb weniger Sekunden raste ich von einem Gefühlszustand in den nächsten, während ich zitternd ein- und ausatmete. Wut über mich und meinen unverschämten Mund, der sich heute wohl in einer anderen Art und Weise selbstständig gemacht hatte, Scham vor mir selbst, Verzweiflung über meine Gefühle (was fühlte ich wirklich?), Angst vor Joels Reaktion, sehr viel Angst, dass ich zu weit gegangen war, Angst vor mir selbst, und dies alles in stetiger Begleitung von einem bedrückenden Ziehen im Inneren meines Halses bis ins Herz, sodass meine Lungen schmerzten.

So plötzlich, wie sie gekommen war, hatte sie sich nun von ihm abgewandt. Mit flachem Atem, geschocktem und ungläubigen Ausdruck in seinen Augen betrachtete er Jocelyns bebende Schultern, die teilweise von ihrem dunklen, nassen Haar bedeckt wurden. Er musste seine Gedanken ordnen, aber irgendetwas blockierte ihn, sein Herz pochte ununterbrochen heftig gegen sein Brustbein, doch den Schmerz seiner Verletzung nahm er bloß dumpf wahr.

„Tut...“, ich schluckte bei dem brüchigen Klang meiner Stimme, „tut mir leid.“, sagte ich so leise, doch ich wusste, er würde meine gewisperten Worte verstehen. Und trotzdem erwiderte er nichts. Ich wusste es...ein Fehler, ein gewaltiger Fehler. Meine Augen richteten sich auf meine von durchnässten und vergrasten Ballerinas umhüllten Füße, die quietschten, wenn ich nur mein Gewicht verlagerte.

Woher war dieser Impuls gekommen? War dies ebenfalls der Grund für meine peinlichen Verhaltensweisen davor gewesen? Spielten meine Gefühle verrückt? Ja, zum Donnerwetter, und wie! Josy, du kannst doch nicht einfach jemanden...und schon gar nicht Joel...nein...“Ach, Scheiße...“, wollte ich in mich hinein fluchen, stattdessen schossen die Worte aus meinem Mund. Wieder einmal. Mann, wie mich das aufregte!!! Konnte mein Mund nicht einfach mal die Klappe halten? Konnte mein Hirn nicht mal früher einlenken und nicht erst dann, wenn es schon längst zu spät war? Nein, der bisherige Spielstand sagte was anderes: Einemillionendreihunderttausendvierhundertsechsundsechzig zu zehn.

Back to You - Dritter Teil: Im FrühjahrWo Geschichten leben. Entdecke jetzt