»Ich bin so frei«

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«Machen Sie sich bitte frei», sagt der Arzt zur jungen Frau in seiner Praxis. Es ist ihr erster Besuch beim Gynäkologen. Sie hat sich für die Untersuchung angemeldet, weil sie ein Rezept für die Antibaby-Pille möchte. Eben hat der Arzt ihr die Instrumente für den Abstrich gezeigt und ihr erklärt, was er damit tut. Und nun soll es also losgehen. Sie geht hinter den Vorhang in der Ecke. «Machen Sie sich frei», hat er gesagt. Sie weiss natürlich, was der Arzt jetzt erwartet: Sie soll sich ausziehen. Aber was? Alles? Oder nur unten rum? Konnte er das denn nicht genauer sagen! «Unten rum wird wohl erst mal reichen», sagt sie sich und zieht Hose und Unterhose aus. Dann tritt sie hinter dem Vorhang hervor. «Ich bin frei», sagt sie zum Arzt. Er schaut sie verdutzt an. Und lenkt sie mit einer Handbewegung auf den Sessel, während er noch am Tisch vor dem Computer sitzt und Daten eingibt. «Bitte, legen Sie sich doch hin.»

Der Sessel ist nicht unbequem, nur unangenehm, weil man darauf automatisch die Beine gespreizt hat. Die junge Frau kommt sich augestellt vor. Schliesslich setzt der Arzt sich auf seinem Rollhocker zwischen ihre Beine und beginnt mit der Untersuchung. «Entspannen Sie sich, so gut es geht.» Plötzlich muss sie grinsen. «Machen Sie sich frei», hat er sie aufgefordert. Am liebsten würde sie nun sagen: «Die Freiheit hab ich mir anders vorgestellt.» Aber sie ist sicher, er würde das nicht verstehen. «Ich bin dann mal so frei», könnte sie auch sagen, aufstehen, sich wieder anziehen und gehen. Aber das tut sie nicht. Schliesslich will sie von ihm nachher das Rezept für die Antibabypille. Durchhalten ist also angesagt.

Sie schliesst die Augen und lässt ihre Gedanken schweifen. Was ist eigentlich das Gegenteil von frei? Eingeschlossen? Angebunden? Verpflichtet? «Wenn ich dem Sebastian nicht verpflichtet wäre, würde ich das nicht tun», denkt sie. Aber sie liebt den Sebastian ja und sie haben gemeinsam beschlossen, dass sie die Pille nimmt. Wenn statt dem Arzt der Sebastian hier wäre, dann hätten sie viel Spass in dieser Praxis, würden sich erst auf dem Rollhocker durch den Raum schieben, dann den Sessel ausprobieren, den kann man bestimmt verstellen. Sie würden sich ernst geben wie ein Arzt und eine Ärztin, sich das Kinn reiben, die Lippen spitzen und «Ui, das sieht aber nicht gut aus» oder «Oha, was haben wir denn da», sagen und dann herzhaft darüber lachen. Wieder muss sie grinsen.

Der Arzt tastet sie noch ab, dann schiebt er den Rollhocker zurück und sagt: «Das wärs schon, sie können sich wieder anziehen.» Ist das Gegenteil von frei also angezogen? Und frei heisst einfach nur nackt? Die Definition befriedigt sie nicht.

Wieder im Empfangsraum erhält sie von der Arztgehilfin das Rezept für die Pille. «Melden Sie sich in einem Jahr wieder zur Kontrolle.» Dann schaut die ältere Dame ihr lehrmeisterlich in die Augen. «Und denken Sie daran, dass die Pille nicht vor Krankheiten schützt, sondern nur verhindert, dass sie schwanger werden.» Das Rezept in der Hand läuft sie die Treppe hinunter. «Jetzt können der Sebastian und ich uns lieben, ohne ein Kind zu bekommen», denkt sie. Sie lächelt in sich hinein. «Die Pille macht frei von der Sorge, schwanger zu werden – und schwanger wird man selten angezogen. Na also, geht doch!»

»Ich bin so frei«Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt