Kapitel 21

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Ich nahm mir vor heute an Nikos Grab zu fahren, doch die Zugverbindungen machten mir einen Strich durch die Rechnung.
Ich schaute zum fünften mal auf dem Plan im Internet nach und musste genervt feststellen, dass sich die Zeit wohl nicht ändern wird. Der Zug unter der Woche ging erst um 17 Uhr, was bedeutet, dass ich frühestens um 23 Uhr wieder zurück sein würde.

Max wäre natürlich überaus begeistert wenn ich alleine in der Nacht mit dem Zug fahren würde. Ich nahm mir vor, ihn sobald er nachhause kommen würde zu fragen ob wir nicht noch mit dem Auto fahren könnten.

Da er noch eine Stunde länger Unterricht hatte als ich dauerte es noch mindestens 30 Minuten bis ich dann endlich den Schlüssel im Schloss hörte.
Doch zu meiner Enttäuschung war er nicht allein, sondern kam mit einem Jungen den ich schon einige male bei ihm stehen gesehen hatte.

„Hey Kleine, das ist Dan."
„Und das ist meine Schwester Chloe.", stellte er uns vor.
„Hi"
„Hey"
„Wir müssen noch ein Projekt für die Schule machen, wenn du was brauchst komm rauf."
„Okay"
Ich schleppte mich die Stufen in mein Zimmer hinauf, suchte meinen Zeichenblock und ein Mäppchen mit Stiften, ging wieder nach unten und setzte mich auf unseren Balkon auf den Boden und fing an zu zeichnen.

Wir hatten noch keine Stühle draußen, deshalb nahm ich mir vor mir so bald wie möglich Gedanken zu machen wie man den kleinen Balkon am schönsten einrichten kann. Doch in diesem Moment wollte ich nichts lieber als mich in eine andere Welt zu begeben.

Wenn ich zu Zeichnen begann, vergaß ich alles und jeden und die Zeit verging wie im Flug. Ich malte mir meine eigene Welt, in der ich mich verstecken konnte. Ein Ort, den niemand anders kannte, den mir niemand kaputt machen konnte.

Vielleicht war genau das der Grund warum ich immer mehr Zeichnete. Seit Nikos Tod, und eigentlich auch schon davor, gab es immer Personen, die mir in meinen Augen ziemlich viel zerstörten und auch mit Schuld an meinen sozialen Rückzug und Abstand waren.

Immer mehr hatte ich mich in großen Pullis, hinter meinen Haaren und irgendwann auch nur noch in meinem Zimmer versteckt. Von außen wirkte ich oft hart im nehmen und viele dachten ich hätte eine harte Schale. Doch was sie eigentlich mit mir anrichteten war keinem bewusst.

Ich war schon ziemlich froh von diesen Personen weg zu sein. Auch wenn unser Umzug mit Nikos Tod zusammen hängte....doch wer weiß wie weit sie mich noch gebracht hätten.

***

„Ich kann dich auch mitnehmen und dich bei dir rauslassen. Das ist eh kein so großer Umweg."
„Wenns dir nichts ausmacht."
„Ne gar nicht das geht schon klar......Hey Chloe bist du dann in 10 Minuten fertig?",fragte mich mein Bruder und steckte kurz seinen Kopf zur Balkontür raus.
„Wofür muss ich mich denn fertig machen?", ich war echt verwirrt und hatte überhaupt keine Ahnung wo wir noch hinmussten.
„Du hast doch heute noch einen Termin beim Therapeuten...er hat dir letzte Woche sogar einen Zettel mitgegeben!", erwiderte Max schmunzelnd.
„Oh....äh ja ich glaub der liegt noch bei dir im Auto."

Ich ging die Treppen zu meinem Zimmer hoch und war richtig außer Atem von der plötzlichen Anstrengung. Ich musste mich kurz setzen da es mir gleich schwarz vor den Augen wurde.

Nach einer kleinen Pause machte ich mich fertig und ging wieder zu meinem Bruder und seinem Freund ins Wohnzimmer.
„Dan fährt noch mit, ich fahre ihn dann noch kurz nach Hause. Deshalb müssen wir heute fünf Minuten früher los."
„Okay."

***

„Bis dann.", ich hob zum Abschied kurz in Richtung meines Bruder meine Hand und machte mich auf den Weg über die paar Treppenstufen zum Eingang in die Praxis.

Wie immer wartete ich ein paar Minuten im sehr bunt gestalteten Wartezimmer.
Der Teppich hatte ein abstraktes Muster mit vielen bunten Farben und ich betrachtete jede einzelne Form ganz genau. Nur weil es mir so unangenehm war, dass noch andere Jugendliche im Wartezimmer saßen. Ich wusste nie wo ich hinsehen sollte, deshalb konnte ich irgendwann noch auswendig welche Form welche Farbe hatte.

Eine Frau im mittleren Alter rief mich auf und sagte mir ich solle ihr folgen. Ich war verwirrt was mit meinem Therapeuten ist, denn ich war bis zu diesem Zeitpunkt immer nur bei dem selben.
„Hallo Chloe, ich bin Frau Heine. Ich werde deine Therapie übernehmen, da dein vorheriger Therapeut leider umziehen musste und dadurch auch seine Arbeitsstelle wechseln muss."

Na toll, wieder eine neue Person, bei der ich wahrscheinlich ziemlich lange brauche um mich etwas öffnen zu können und ich nicht versuche immer auf Abstand zu gehen.

„Durch die Notizen, die er sich während der Therapie gemacht und auch beim Gespräch über dich sind mir einige Dinge aufgefallen, die ich gerne noch austesten würde. Ich hoffe es ist für dich in Ordnung, wenn du nochmal einige Fragebögen ausfüllst, da wir dann eine deutlichere Diagnose stellen können. Hast du hier schon mal solche Fragebögen beantwortet?"

„Ähm ja aber nur einen in dem sich dann herausgestellt hat, dass ich Depressionen hab..."

„Okay, ich würde mit dir gerne mehrere Tests machen, da wir so vielleicht Probleme erkennen können die wir bis jetzt noch gar nicht wissen. Dadurch können wir dann viel besser daran arbeiten."

***

Eine Stunde später und völlig erschöpft von den vielen Fragebögen verließ ich die Praxis und suchte das Auto meines Bruders.
„Ich muss morgen noch mal kommen, da sie jetzt noch neue Tests gemacht haben und die bis morgen ausgewertet sind.", erklärte ich Max im Auto.

Zuhause angekommen ging ich sofort in mein Zimmer und wollte schlafen, da sich der Schlafmangel der letzten Nacht deutlich machte. Obwohl ich so müde war, dass ich kaum noch meine Augen offen halten konnte, konnte ich mal wieder nicht einschlafen. Ich drehte mich hin und her. Nach einer gefühlten Ewigkeit fiel ich endlich in einen sehr unruhigen Schlaf. Der nach drei Stunden auch schon wieder vorbei war.

Schweißgebadet und mit einem Heulkrampf wachte ich auf. Ich hatte wieder einen Alptraum, der schlimmer war als jeder andere.

Wie bei einem Film musste ich bei Nikos Unfall zusehen und konnte einfach nicht eingreifen.
Ich sah das Auto fahren und wusste ganz genau an welcher Stelle der Unfall passieren würde. Mit aller Kraft hatte ich versucht aufzuwachen, doch ohne Erfolg.
Nach dem Unfall sah ich seinen leblosen Körper am Boden liegen und einige Meter weiter vorne noch zwei weitere.
Die meiner Eltern.
Dann wachte ich auf, da ich viele male meinen Namen rufen hörte und bemerkte, dass dies nicht mehr zum Traum gehörte.
Max stand mit einem entsetzten Gesicht neben mir, er setzte sich zu mir auf die Bettkante und umarmte mich lange. Wir redeten noch bis in die Morgenstunden über unsere Eltern, die neue Schule und viele anderen Dinge, da an schlafen heute nicht mehr zu denken war.

Verlass mich nicht!Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt